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Dr. Olaf Lewerenz
Dr. Olaf Lewerenz
Stadtkirchenpfarrer
an St. Katharinen
Felix Mendelssohn Bartholdy, 1809–1847
Sonate c-moll op. 65, Nr. 2
1.Satz: Grave/Adagio
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

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Das Kreuz – eine Lachnummer!

Wen interessiert in Frankfurt schon noch die Meinung der Kirchen? In der Pandemie wurde deutlich, dass unsere Stimme in der Öffentlichkeit nicht groß vermisst wurde. Kamen sonst bei Unglücken oder Anschlägen Menschen in die Kirche zum Beten, blieb es in der Pandemie ruhig, für mich zu ruhig. Besonders deutlich wurde die abnehmende Bedeutung der Kirchen, als Angela Merkel im Frühjahr vergangenen Jahres in ihrer Fernsehansprache zur Pandemie Kirche noch nicht einmal erwähnte – und das als Pfarrerstochter!

Bereits Paulus musste sich mit der Relevanz der christlichen Botschaft auseinandersetzen. Im 1. Kapitel des Korintherbriefs sagt er: 23Wir verkünden Christus, den Gekreuzigten: Das erregt bei den Juden Anstoß und für die anderen Völker ist es reine Dummheit.

Paulus verweist uns auf das Kreuz – auf zwei armselige Balken mit einer noch armseligeren Kreatur. Ein erniedrigter, ein misshandelter, ein verstoßener Mensch. Damit lässt sich kein Staat machen, schon zu Zeiten Paulus nicht. Dieser Jesus am Kreuz passt der Welt gar nicht, dieser gescheiterte Weltverbesserer. In Jesus kehrt Gott die Verhältnisse um: Erniedrigung und Torheit wird zur Weisheit und Stärke vor aller Welt. Eine radikale Neubewertung aller Werte.

Jesus wurde gekreuzigt, weil er seine Botschaft konsequent lebte: „Liebe deinen Nächsten, liebe deine Feinde, selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, selig sind die Friedensstifter.“

Ein Machtapparat kann sich dieser Umkehrung der Werte nicht beugen, weil er damit seine vermeintliche Stärke und sein Selbstbild einbüßen würde. Gerade erleben wir dies in der Türkei im System Erdogan oder in Belarus. Schwäche, die kein Selbstmittleid ist, sondern Konsequenz für ein Leben und für die eigenen Werte, die können die Feste einer Gesellschaft zum Einsturz bringen. Daher die Angst der Nazis vor den Flugblättern der Weißen Rose, daher die weltweite Angst vor Journalisten, die nicht Propaganda, sondern Realität beschreiben.

Das Kreuz, der Blick auf das Opfer, ist mir ein Graus, weil es mir die Realität vor Augen bringt, die ich übertünchen will. Deshalb auch die erhitzten Debatten über die Flüchtlinge, die zu uns kommen, denn sie reißen den Schleier der Selbsttäuschung, den wir jahrzehntelang erfolgreich vor unseren Augen hatten, herunter. Und eine ehrliche Erkenntnis des Klimawandels, sie wird geleugnet, führt sie uns doch vor Augen, dass unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem uns an den Abgrund gebracht hat. Schon jubelt die Luftfahrtbranche, dass es nach der Pandemie wieder aufwärts geht. Wohin? Es bleibt der Blick auf das Kreuz, auf das Leiden der Welt.

Das Wort vom Kreuz: eine Lachnummer? Ja, weil es der Fratze des Todes entgegenlacht und sich nicht anpasst an Machtstrukturen. Im Angesicht des Kreuzes heißt es mit Geschundenen zu leben, auch wenn es ungewaschen riecht und die Zähne fehlen. Das Wort vom Kreuz öffnet unsere Arme für die Ausgestoßenen, für die Missachteten, hier an der Hauptwache, dort in den Favelas von Rio.

Und die Kirche? Wenn sie das Kreuz im Blick hat, dann wird sie gehört werden!

Felix Mendelssohn Bartholdy, 1809–1847
Sonate c-moll op. 65, Nr. 2
3.Satz: Fuge (Allegro moderato)
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen