Impuls zum drittletzen Sonntag des Kirchenjahres

Zwei küssende Engel unterm Kreuz

Da hängt Jesus, blutüberströmt, am barocken Kreuz in der Dorfkirche von Frankfurt Unterliederbach. Und unter dem Kreuz zwei goldene Putten, die sich küssen. Kitsch? Barocker Schwulst?

Weit gefehlt: die beiden sind eine symbolische Darstellung des 85. Psalms: 10Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; 11dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen.

Ein schönes Bild: Gerechtigkeit und Friede küssen sich in der Gestalt von zwei Engeln – unterm Kreuz. Aber es birgt die Gefahr in sich, dass Leid versüßt wird. Bei den Menschen, die an den Stacheldrahtzäunen zwischen Polen und Belarus hängen, an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten küssen sich keine Engel, dort sind Frieden und Gerechtigkeit weit weg, dort bleibt das Leid.

Die Situation des Beters des 85.Psalms damals in Jerusalem ist von unserer heutigen denkbar verschieden, doch die Hoffnungsbilder, die er entwirft, die berühren mich: Gott sagt seinem Volk Frieden zu, er ist nahe mit seiner Hilfe, Güte und Treue sollen einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Gott wird das Land erblühen lassen und Gerechtigkeit ihm vorausgehen und folgen.

Wenn unser Leben, unsere Welt von Gerechtigkeit und Frieden erfüllt sind, sich diese beiden Zustände küssen, dann sind wir dem Reich Gottes nicht nur näher gekommen, dann leben wir schon darin.

Gerechtigkeit und Friede. Oft küssen die Beiden sich nicht, sondern bekämpfen sich geradezu: damit wir keinen Aufruhr erleben, bleibt die Pendlerpauschale, auch, wenn sie einer Umweltgerechtigkeit Hohn schlägt. Damit wir alle weiterhin günstig nach Mallorca kommen und keine Gelbwestenbewegung bei uns beginnt, müssen halt Klimaziele hintanstellen. Friedliche Zustände – bei denen wir wissen, sie haben böse Konsequenzen für unsere Welt und spätestens für unsere Nachkommen.

Tatsächlich Maßnahmen gegen Belarus oder Polen ergreifen? lieber nicht, es könnte zu Konflikten kommen. Und von China sind wir auch abhängig. Um des lieben Friedens willen wird Gerechtigkeit geopfert. In der Realität küssen sich Frieden und Gerechtigkeit nicht, sie beißen bestenfalls die Zähne aufeinander.

Wenn wir anfangen auf falsche Kompromisse zu verzichten, dann kann so etwas wie Gerechtigkeit und Frieden wachsen. Von Küssen will ich noch nicht sprechen, aber die beiden können sich vielleicht wenigstens in Augenschein nehmen.

Zwei küssende Putten unterm Kreuz. Doch nur barocker Kitsch? Nein, denn mit seinem Leben hat Jesus versucht, Frieden und Gerechtigkeit zu leben. Zeichenhaft war das Reich Gottes durch ihn auf der Erde gegenwärtig. Hass und Angst haben ihn ans Kreuz gebracht, aber auch im Tod stand er für Gerechtigkeit und Frieden. Und in seinem Namen haben immer wieder Männer und Frauen versucht, Frieden und Gerechtigkeit zu säen. Es bräuchte viel mehr küssende Putten, die die Sehnsucht in uns wachhalten nach einer Welt, die sich nach Frieden und Gerechtigkeit streckt, auch unter den Bedingungen unseres Alltags.

Lassen Sie sich anstecken von den küssenden Engeln unterm Kreuz.

Ihr Olaf Lewerenz

Evangelisch-lutherische St. Katharinengemeinde