Predigten der Sonn- und Feiertage

Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020
von Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

Liebe Gemeinde,

„die schärfsten Kritiker der Elche warn früher selber welche!“ Ich vermute, viele von Ihnen kennen diesen Spruch von F.W. Bernstein, einem der Satiriker der neuen Frankfurter Schule. Den Spruch schrieb er unter eine Zeichnung, auf der eine Gruppe Elche im Trenchcoat und mit Hut in Stasi- oder Gestapomanier sitzt: Die schärfsten Kritiker der Elche warn früher selber welche!

Und wer von Ihnen schon einmal versucht hat mit einem vom Steakesser zum Veganer Bekehrten über die eigene Vorliebe von Kuhmilch für den Cappuccino zu sprechen, der weiß, wozu konvertierte Elche fähig sind. Denselben missionarischen Eifer habe ich manchmal bei ehemaligen Rauchern gefunden. Da wird dann mit einer Vehemenz draufgehauen, 150 %ig, mindestens.

Ähnlich war wohl auch das Verhalten vieler oder einiger der ersten Christen, die vorher Juden waren. „Wie kann jemand nicht kapieren, dass Jesus der erwartete Messias ist, der Sohn Gottes?“ waren ihre Gedanken. Um diesen Elchen den Wind aus den Segeln zu nehmen oder besser aus den Schaufeln, setzte sich Paulus in seinem Brief an die Römer mit dem Verhältnis von Juden und Christen auseinander. Der Predigttext stammt aus dem Schlussteil dieses Gedankengangs:

25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Soweit der Predigttext.

Ziemlich kompliziert, dieser Text. Verstockung hier, Erwählung da, Ungehorsam hier, Erbarmung dort. Als erste Quintessenz des Textes hier noch einmal der letzte Vers: Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Heißt: Sowohl Juden als auch Christen erbarmt sich Gott.

Das wurde aber schon von den ersten Jahrhunderten an bis ins 20. Jahrhundert so nicht verstanden. Da galten unter Berufung auf Paulus Juden als verworfen, Christen als erwählt. In vielen Kunstwerken wurde Synagoga, Symbol für das Judentum, als gebrochene Frau dargestellt, Ekklesia, Kirche, als strahlende Siegerin. Letzte Woche habe ich im Bamberger Dom wieder diese beiden Skulpturen gesehen. Kirche als die Siegerin über die Synagoge. Jahrhundertelang ist Paulus einfach für den Kampf gegen die jüdischen Gemeinden verwendet worden. Von Streit über Unterdrückung bis hin zur Vernichtung reichte diese Geschichte.

Für die ersten Christen war es nur schwer zu verstehen, wie jemand, der Jude ist, nicht Jesus als den von Gott gesandten Messias ansehen konnte. Eigentlich hätten sich ja alle Juden zum Christentum bekehren müssen  – meinten die Anhänger*innen Jesu. In Jesus hat sich doch Gott neu und endgültig uns Menschen mitgeteilt. Warum verstehen die anderen das nicht und beharren auf ihrem „alten“ Glauben?

Christ*innen sehen ihren Glauben als Erfüllung der jüdischen Verheißungen. Ähnliches können übrigens auch Muslime von Christen denken, denn für sie geschieht die endgültige Offenbarung Gottes durch Mohammed. Das müssten wir doch eigentlich verstehen und konvertieren. Aber so wie ich nicht zum Islam konvertiere, konvertierten auch Juden nicht unbedingt zum Christentum. Mit dieser Kränkung mussten die ersten Christengemeinden leben. Auch bei Martin Luther ist diese Kränkung noch zu spüren. Und noch heute denken einige Christ*innen, alle Juden müssten sich doch zum Christentum bekehren.

Und da die schärfsten Kritiker der Elche bekanntnlich selber welche waren, wurden bei den ersten Christ*innen aus einst besonders strenggläubigen Juden die größten Feinde der Juden. Manchmal erlebe ich dies heute bei ehemaligen Christ*innen, die zum Islam konvertiert sind. Um vor sich selbst und vor anderen deutlich zu machen, was jetzt gilt, müssen sie sich besonders intensiv, manchmal aggressiv, gegen das abgrenzen, was sie vorher selber vertreten haben. Und ich behaupte, das liegt auch daran, weil es ihnen noch so nah ist. Deshalb müssen sie viel Energie aufwenden, um sich abzugrenzen.

Und das war wohl auch in der Gemeinde in Rom so. Deshalb holt Paulus weit aus, um das Verhältnis zwischen Juden und Christen, zwischen der Erwählung des Volkes Israel und der Erwählung der christlichen Gemeinde theologisch zu erklären. Mit seinen Erörterungen zum Verhältnis von Christentum und Judentum stellt sich Paulus auch seiner eigenen Vergangenheit, schließlich stammt er aus einer jüdischen Familie, war Pharisäer, und hatte zu Beginn Christ*innen verfolgt. Doch im Gegensatz zu manchen seiner christlichen Glaubensgeschwister bemühte er sich um eine differenzierte Sicht des Verhältnisses von Juden und Christen.

Zunächst stellt er im Römerbrief Kapitel 9 fest: 1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Denn ich wünschte, selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch. 4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

Schmerz und Traurigkeit sind zu hören, Paulus leidet darunter, dass es zu einer Spaltung, einer Abspaltung gekommen ist zwischen Juden und Christen. Lieber wäre ihm gewesen, gemeinsam zu glauben. Und wie viel Leid hätte so verhindert werden können, Diskriminierung, Vertreibung, Vernichtung.

In der Auseinandersetzung mit seinen Mitchristen hält Paulus fest: Juden sind und bleiben das von Gott auerwählte Volk der Kinder Israels, sie können Gott als ihren Vater, abba, bezeichnen. Wir Christ*innen können das nur über den Umweg mit Jesus als unseren Bruder. Mit der Herausführung des Volkes Israel aus Ägypten hat Gott sich als Befreier gezeigt. Die Israeliten haben die Herrlichkeit Gottes sehen können in der Wüste, das was später den Hirten auf den Feldern Bethlehems bei der Geburt Jesu erneut passierte. Der Bund, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat, er bleibt bestehen bis in alle Ewigkeit. Mit uns Christ*innen gab es einen neuen Bund, der aber den alten nicht aufgehoben hat. Und auch die Gebote und Weisungen Gottes, sie gelten weiter. Jesus sagte in der Bergpredigt, dass nicht ein Jota, nicht ein I-Punkt davon aufgehoben werden soll. 10 Gebote und Nächstenliebe sind ein Vorrecht Israels, wir sind darin als Neue mit hineingenommen, gedacht waren diese Weisungen ursprünglich für die Israeliten.

Und auch der Gottesdienst, die Begegnung mit Gott im Tempel, ist ursprünglich ein Privileg der Juden, unser Gottesdienst lehnt sich daran an. Und wie der Bund mit Gott, so gelten auch seine Verheißungen für Abraham und dessen Nachkommen weiter. Denn – und so endet Paulus- auch Christus ist jüdischer Abstammung und in ihm wird Gottes Bund und seine Verheißungen weitergetragen, bis hin zu uns. Wenn diese Gedanken in der Geschichte der christlichen Kirche stärker bedacht worden wären, die Geschichte der Pogrome und Unterdrückung von Jüdinnen und Juden hätte es nicht geben müssen. Aber neben der Abgrenzung von der eigenen Vergangenheit in den ersten Generationen der Christen blieb wohl immer der Stachel tief sitzen, dass unsere, die christliche Religion, alleine durch die Existenz der jüdischen  Religion in Frage gestellt war: eine Religion, die sich auf den Bund mit Gott berufen konnte, ohne an Jesus zu glauben. Und außerdem war es politisch immer gut, einen Feind zu konstruieren, auf den man dann bei Bedarf Aggressionen ableiten konnte.

Doch zurück zu unserem Predigttext: Paulus spricht dort von der „Verstockung, die einem Teil Israels widerfahren ist, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist.“ Verstockt sind für ihn diejenigen, die Jesus Christus nicht als Gottes Sohn erkennen. Die Erwählung bleibt, dennoch sind für ihn die Juden verstockt. Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Feinde des Evangeliums, klar: sie erkennen Jesus nicht als Gottes Sohn an – aber sie bleiben erwählt.

Paulus sieht Gott am Werk: er hat bewirkt, dass einige Juden nicht sehen, nicht einsehen, dass die Botschaft von Jesus die Erfüllung der Botschaft Gottes an uns ist. Und diese Verstockung wird nach Paulus so lange dauern, bis sich alle Heiden zu Gott bekehrt haben. Abgesehen davon, dass -zumindest bei uns- die Zahl der Christ*innen sinkt und wir eine Minderheit sind: dieser Vorbehalt ist theologisch wichtig: Nach jüdischem Verständnis bricht das Reich Gottes an, sobald alle Juden einen Tag alle Weisungen Gottes befolgen. Würde dies geschehen, dann hätten ja die ehemals Heiden keine Gelegenheit mehr, sich zu Gott zu bekennen. Daher hat Gott nach Auffassung von Paulus die jüdischen Gläubigen zunächst verstockt, damit sich alle Heiden zu Christus bekennen können. Danach würden auch die verstockten jüdischen Gläubigen sich zu Christus bekennen und das Reich Gottes würde anbrechen.

Hier muss ich dann aber doch Paulus und seiner Theologie widersprechen: zum ersten: Die Probe aufs Exempel wird nicht funktionieren: Weder werden sich alle Menschen zum christlich gedachten Gott bekehren. Und selbst wenn sie es täten: dass wir alle auch nur einen Tag die Gebote befolgen, das halte ich für eher ausgeschlossen. Entweder Gott errichtet sein Reich des Friedens und der Liebe oder es wird nicht kommen, denn wir sind durch unser Verhalten dazu nicht in der Lage. Wir können versuchen, uns an die Gebote halten wie der Schriftgelehrte in der Lesung des Evangeliums vorhin, aber eine vorübergehende Verstockung macht keinen Sinn.

Um nicht zu den Kritikern der Elche zu werden: es ist an der Zeit, einzugestehen, dass Gott Juden und Christen erwählt hat um gemeinsam mit allen, die an Gott glauben, sein Reich zu bauen. Und ich bin davon überzeugt, dass alle an Gott glaubende Menschen, Juden, Christen und auch Muslime in gegenseitiger Achtung voreinander und vor Gott mit ihren unterschiedlichen Traditionen und Glaubensgebäuden Gott die Ehre erweisen sollten und den Menschen und der Schöpfung Frieden bringen. „So ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich finden lassen.“ Dies sagt der Prophet Jeremia (29). Gott wird sich gemeinsam von uns finden lassen.  Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Amen.

Predigt zum 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August 2020
von Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

Liebe Predigtleser*innen,

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden 7 und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

auf den ersten Blick ist der Predigttext aus dem Johannesevangelium Kap. 9 eine Heilungsgeschichte wie so viele. Jesus heilt einen Blindgeborenen, am Ende kann dieser sehen. Und die ausgesuchten Verse haben dies zum Schwerpunkt. Doch Johannes hat diesen Stoff anders als die anderen Evangelisten in einen größeren Kontext eingebettet.

Zunächst wird relativ knapp von der Heilung des Blinden berichtet. Danach kommen die Nachbarn zu Wort. Sie sind unschlüssig, ob das überhaupt der Blinde ist und wie denn vielleicht die Heilung vonstattengegangen sein soll. Und sie schleifen den Geheilten zu den Pharisäern. Die merken sofort an, dass diese Heilung ja unerlaubter Weise am Sabbat geschehen ist. Sie ziehen die Eltern des ehemals Blinden hinzu, die bestätigen, dass es sich um ihren Sohn handelt, aber was das mit der Heilung auf sich hat, dazu können sie auch nichts sagen. Dann rufen die Pharisäer wieder den Geheilten und nehmen ihn in die Zange. Als er dann erneut von Jesus als dem erzählt, der ihn geheilt hat und der, weil er heilen kann, von Gott geschickt sein muss, werfen sie ihn aus der Synagogengemeinde. Denn dass jemand, der blind geboren wurde, mit einem Mal sehend wird, das hat es noch nicht gegeben. Und dass dieser sie dann noch belehren will, niemals! Schließlich tritt Jesus wieder auf. Er fragt den Geheilten, ob er an den Menschensohn glaube. Der Geheilte bekennt sich zu Jesus. Das bekommen wiederum die Pharisäer mit, denen Jesus auf den Kopf zusagt, dass ihre Sünde bleibt. Soweit dieses Konglomerat an Themen.

Doch bleiben wir erst einmal bei der eigentlichen Heilung:

Es fängt schon merkwürdig an: Jesus geht mit seinen Anhängern zum Tempel von Jerusalem und auf dem Weg bemerken Jesu Anhänger*innen einen Blinden. Wahrscheinlich stand er am Wegesrand und bettelte, denn groß andere Möglichkeiten hatte damals ein Blinder nicht. Und wahrscheinlich standen da auch noch mehr Blinde, aber die Jünger picken sich diesen einen heraus, von dem sie wussten, dass er schon blind geboren wurde. Jesus ist da schon fast vorbeigegangen, er hat den Blindgeborenen nicht groß wahrgenommen.

Und dann passiert etwas, was öfter in Gegenwart von Kranken oder Behinderten passiert: die Jünger fragen ganz ungeniert in dessen Beisein, ob die Blindheit seine oder die Schuld seiner Eltern ist. Hier setzt mein Fremdschämen ein, denn der Blinde wird das gehört haben: er wird zum Objekt eines theologischen Fachgesprächs gemacht. Was er meint, wie es ihm damit geht, das interessiert hier niemanden. Er wird nicht als gleichwertig, als Subjekt seines Lebens betrachtet, er ist ein Fall, über den man diskutieren kann. Wie oft wird das am Krankenbett, im Altenheim oder Flüchtlingsunterkunft so praktiziert.

Dass Krankheit die Folge von Sünde ist, das ist damals gängige Meinung. Und nicht nur damals, noch heute spukt dieser vermeintliche Tun-Ergehens-Zusammenhang in unseren Köpfen: Vor ca. 35 Jahren kam es nicht selten vor, dass Christ*innen gegenüber oder meist über AIDS-Kranke sagten: „Das ist Gottes Rache für deren sündiges Leben!“ Erst langsam und auch mit Hilfe unseres Predigttextes haben die Kirchen dazugelernt: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.

Doch tief in vielen von uns scheint dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang verankert zu sein: mir geschieht etwas, weil ich schlecht war. Ich muss bitter büßen, dass ich… – Und dabei geht es nicht unbedingt um jahrelanges Rauchen und Lungenkrebs, wo es ja schon einen Zusammenhang gibt. Sondern Behinderung, Leid, Krankheit, Arbeitslosigkeit… werden betrachtet als Folge, weil ich schlecht gelebt habe und Gott mich bestrafen will. Dabei hat in der Bibel schon Hiob diesen Zusammenhang auseinandergerissen: wer gut, fromm, untadelig lebt, dem ergeht es nicht unbedingt gut. Und umgekehrt hat ein rücksichtsloses Leben nicht unbedingt Krankheit und Strafe zur Folge. Krankheit und Armut sind nicht eine Sünde und nicht die Folge einer Sünde!

Wie soll denn überhaupt ein Blindgeborener gesündigt haben? Wenn, dann könnten es ja wohl nur seine Eltern gewesen sein, aber auch das verwirft Jesus. Diesen Zusammenhang gibt es nicht. Punkt, Diskussion zu Ende.

Auch Corona ist weder Folge individueller Sünde noch ein Wink Gottes wegen der Zerstörung unserer Umwelt oder ein Zeichen, nur noch vegan zu leben, sonst bestraft uns Gott. Einen solch einfachen Mechanismus gibt es nicht!

Natürlich kann eine Krankheit wie AIDS oder Corona Anlass sein, neu über uns und unsere Gesellschaft nachzudenken: wie gehen wir mit unseren Mitgeschöpfen um, wie ist unsere Wirtschaft weltweit verstrickt, wer muss unter welchen Bedingungen leben? Auch: wem kann ich wie helfen, wie kann in einer Krise Gemeinschaft gelebt werden? Welche Folgen hat die immer größere Zerstörung von Lebensräumen usw.? Aber das sind ethische Fragen, die sich anlässlich einer Krankheit oder anderen Ereignissen stellen.

Die AIDS-Epidemie hat damals in den 80er und 90er Jahren innerhalb der Betroffenen und deren Freunden und Angehörigen sehr viel Engagement freigesetzt. Viele Kirchengemeinden in aller Welt kümmern sich seit der Zeit um die AIDS-Kranken in ihrem Umfeld. Und auch in unserer Kirche hat diese Krankheit zum Umdenken geführt, was die Themen Homosexualität, Drogengebrauch, Prostitution betrifft. Leider gilt das aber nicht weltweit, noch nicht einmal in ganz Europa.

Umgang mit Krankheit oder mit Menschen mit Behinderung kann ein Umdenken bei mir oder in der Gesellschaft bewirken, aber eine Einteilung in Schuldige – Unschuldige, Gute und Schlechte, die verwirft Jesus.

Wer meint, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen und die anderen wären blind oder sündig, der oder die ist im Gegensatz zum Blindgeborenen in den Augen Jesu sündig. Eine Blindheit, die Körper und Geist betreffen. Jesus sprach zu ihnen, spricht zu uns: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde: weil ihr aber sagt: wir sind sehend, bleibt eure Sünde. (41) Oder auch: wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Liebe Leser*innen,

auch die Heilung des Blindgeborenen selbst bleibt merkwürdig. Der Blinde bekommt von Jesus einen Lehmbrei auf seine Augen geschmiert und soll zum Teich Siloah gehen. Der liegt vom Tempel aus aber ein gutes Stück weit weg, unten beim Kidrontal. Wie das der Blinde schaffen soll? Nun gut, vielleicht hat ihn jemand begleitet. Egal… Aber er gehorcht Jesu Wort und siehe, er wird sehend. Und als er wieder in der Nähe des Tempels zurückkommt, da ist Jesus mit seinen Anhänger*innen schon weg. Weder hat der Blindgeborene Jesus gesehen, noch haben die Anhänger*innen mitbekommen, ob die Heilung tatsächlich geklappt hat. Und zum Glauben an Jesus kommt der Geheilte auch erst sehr viel später. Zunächst weiß auch dieser nicht so richtig wie ihm geschieht.

Johannes hat noch zwei theologische Aussagen in die Geschichte gepackt. Zunächst die Heilung durch Jesu: er nimmt Lehm und Spucke und berührt den Blinden. Damit greift Johannes auf die Paradiesgeschichte zurück, in der Gott aus Wasser und Lehm und seinem Atem Adam erschafft. Jesus, der Sohn Gottes, der in Gottes Vollmacht handelt, er wird selber zum Schöpfer, zum Schöpfer des neuen Menschen.

Mehr noch als eine Heilung am Sabbat müsste diese Handlung streng religiöse Menschen damals im höchsten Maß erzürnt haben. Denn Jesus als der, der einen Blinden heilt, muss von Gott kommen, das aber kann und darf nicht sein. Und dass der ehemals Blinde davon auch noch Zeugnis ablegt, auch nicht, deshalb muss er aus der Gemeinschaft geworfen werden.

Dass Jesus eine neue Welt erschafft, das wollten und wollen viele nicht wahrhaben. Denn in dieser neuen Welt gelten nicht mehr die alten Hierarchien. Da kann ein Blinder zum Seher werden, da kann ein Verachteter zum Propheten werden, da kann ein Fremder zum Beschützer und Retter werden.

In der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen werden die Maßstäbe umgekehrt. Und das schmerzt die alten Autoritäten. Sie haben das Licht der Welt nicht gesehen, sie verharren in der Dunkelheit. Sie wollen sich nicht mit einer neuen Realität abfinden, in der die Gesetze von drinnen und draußen, oben und unten nicht mehr gelten.

Liebe Leser*innen,

was können wir jetzt mit der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen anfangen?

Zunächst: Es gibt Wunder. Menschen, die blind waren können sehend werden, Kranke werden gesund. Nicht immer, nicht automatisch. Aber es kann Wunder geben. Diese Wunder gibt es nicht wegzudiskutieren. Wenn jemand für sich in seinem Leben solch ein Wunder erlebt hat, dann gönnen wir ihm oder ihr diese Erfahrung und freuen uns mit.

Eine Freundin von mir, Atheistin, hatte nach langen Jahren endlich ein Spenderherz gefunden, auf dem OP-Tisch versagte ihr altes Herz, aber das neue stand schon bereit, es ermöglichte ihr zweites Leben. Für mich ein Wunder. Und einmal bat mich hier in der Katharinenkirche eine Frau um einen persönlichen Segen, um ihren Gehirntumor zu besiegen. Ich weiß nicht, ob es geklappt hat. Ich habe alle meine Energie zusammengenommen, vielleicht hat Gott eine Heilung erwirkt. Ich mit meiner rationalen Haltung wollte ihr nicht die Sehnsucht nach einem Wunder rauben. Ich bin kein Wunderheiler und eher skeptisch, aber wenn jemand für sich ein Wunder erlebt hat und sich damit nicht moralisch aufplustert, wie schön!

Jesus hat nicht alle Blinden geheilt, Gott macht nicht durch ein Wunder alle Menschen gesund. Und auch der Zusammenhang: wenn du richtig glaubst, dann wird Gott dich heilen, der ist vermessen. Wer solches behauptet, der will Menschen unter Druck setzen. Gott ist keine Maschine, die auf Wunsch Wunder vollbringt.

Aber Gott hat uns einen Verstand gegeben. Wir können das unsere tun, um Menschen zu helfen. Wie viele von uns leben nur noch, weil wir eine gute Medizin haben. Und wie viele könnten noch leben, würden auch sie Zugang zu sauberem Wasser und Gesundheitsversorgung haben, gerade in der Coronapandemie.

Ob Wunder eintreten und tot geglaubte neues Leben bekommen, das können wir getrost Gott überlassen. Und keine Diskussion, ob jemand das verdient hat oder nicht. Jesus ist das Licht der Welt. In seinem Namen sind wir aufgerufen, zu helfen und zu heilen. Garantieren können wir für nichts, aber beten und hoffen. Und mit den Menschen, die es betrifft, gemeinsam handeln, damit aus Leid Freude wird, aus Menschen, die an den Rand gedrängt werden, ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft.

 „Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“ So heißt es in unserem Wochenspruch aus dem Epheserbrief. Wenn wir uns das als Motto für unser Leben wählen, dann haben wir noch viel vor uns, bis das eintritt. Aber dann werden wir noch Wunder in unserem Leben erleben, Amen.

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Predigt zum 6. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juli 2020
von Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

Liebe Gemeinde,

ich liebe Regenbögen. Immer wenn es noch regnet und die Sonne schon wieder herauskommt, schaue ich, ob ich vom Fenster aus einen sehe und noch lieber ist mir, wenn ich mit dem Auto über Land fahre und einen Regenbogen dann in seiner vollen Pracht durch die Frontscheibe bestaunen kann. Großer Bogen, manchmal ja sogar doppelt.

Physikalisch ist ein Regenbogen ja eher ein simples Phänomen, dennoch hat er eine mystische Wirkung. Nicht ohne Grund ist er seit 50 Jahren zum Symbol des New Age geworden, hat die Friedensbewegung ihn adaptiert und würde er in anderen Jahren an diesem Wochenende zum Christopher Street Day auf der Konstablerwache als Fahne der Schwulen und Lesben wehen.

Doch was ist dies schon, denn seit 3.000 Jahren ist der Regenbogen Zeichen für Gottes Bund mit den Menschen. Nach der Sintflut hat Gott seinen Bogen in die Wolken gesetzt als seine Zusage, dass er die Menschen nicht mehr ausrotten will. Und so erinnert uns der Regenbogen immer an Gottes Zusage, dass die Erde bestehen bleiben soll, dass Gott uns beschützen und befreien will.

Um diesen Bund Gottes mit uns Menschen geht es im Predigttext für den heutigen Sonntag im Buch Deuteronomium, im 5. Buch Mose, Kapitel 7:

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7 Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der Herr euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. 9 So sollst du nun wissen, dass der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. 12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der Herr, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat. Soweit der Predigttext.

Liebe Gemeinde,

seit über 3.000 Jahren gilt der Bund Gottes mit uns. Moment mal: mit uns? Da war von Christus und uns als Kinder Gottes noch überhaupt nicht die Rede. Da geht es um das Volk Israel, das Gott erwählte, als sie in der Sklaverei in Ägypten waren. Ein Text für uns? Nein, für das Volk Israel. Gott erinnert hier sein Volk an die Befreiung aus der Sklaverei. Er bestätigt seine Erwählung des Volkes Israel als des kleinsten aller Völker, das er liebt und dem er die Treue hält, wenn sie seine Gebote und Weisungen halten.

Der Bund der Treue, den das Volk Israel immer wieder verlassen hat, indem sie sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens sehnten und auf Augenhöhe mit den großen Mächten verhandeln wollten, sich ihren Bräuchen anpassen.

Gott schließt seinen Bund mit seinem geliebten Volk, das seine Weisungen und seine Gebote erhielt. Die sollen sie befolgen als Antwort auf die Liebe Gottes. Als sein Volk sollen die Israeliten nicht nach Macht über ihre Mitmenschen streben, nicht nach Wohlstand für wenige, sondern nach der Liebe zu Gott, nach Gerechtigkeit und dem Schutz der Schwachen.

Immer wieder haben die Propheten Israels im Laufe der Geschichte soziale Ungerechtigkeit angeprangert, die Unterdrückung von Witwen und Waisen, von Armen, von Landlosen. Sie haben ihre Stimme erhoben, wenn die Israeliten vergessen hatten, dass sie mit Gott einen Bund haben, wenn Israel ein Volk war wie alle anderen: das möglichst mächtige Götter, möglichst viel Reichtum für wenige, möglichst viel Sklaven besitzen wollte, die für den Wohlstand anderer schuften müssen.

Sein Volk sollte sich immer wieder daran erinnern, dass Gott es zur Freiheit berufen hat. Seinen Bund halten heißt, die Freiheit zu verteidigen. Die Freiheit der Schwachen, die Freiheit der Armen, die Freiheit der Andersdenkenden. Daran soll uns der Regenbogen erinnern.

Die Freiheit, die Gott seinem Volk verheißt, ist nicht Freiheit des Einzelnen auf größtmögliche Macht und größtmögliches individuelles Recht. Es ist die Freiheit im Zusammenleben von Menschen. Die Freiheit in Beziehungen, unabhängig von Macht und Einfluss. Und es beinhaltet auch den Schutz der Fremden und Schwachen.

Liebe Gemeinde,

sein Bund, Gottes Zuwendung, galt den Israeliten, genauer, den Chapiru, den Hebräern, damals um ca. 1.200 v. Chr. Das waren historisch die Nomadenvölker, die im Israelischen Bergland auf kargem Boden Ziegen und manchmal auch Schafe hielten, während im fetten, fruchtbaren Küstenstreifen die Philister wohnten. Die wohl teilweise zuvor in Ägypten siedelten. Deren Nachfolger bildete das Volk Israel, dies sind die Urahnen der jüdischen Gemeinde.

Doch: Was hat das alles mit uns zu tun? Liebe Gemeinde, erst einmal nichts! Und dann doch. Wir Christen sind überzeugt, dass Gottes Bund mit dem Volk Israel, mit den Juden weiter besteht, dass aber wir Christen dazu gekommen sind. Wir haben nicht das Volk Israel als Gottes Volk ersetzt, wie das leider über weite Teile der Kirchengeschichte behauptet wurde, sondern dank der Gnade Gottes konnten wir durch Jesus Christus in seinen Bund mit den Menschen aufgenommen werden.

War die Beschneidung das Zeichen des Bundes, so ist für uns die Taufe das Zeichen des Neuen Bundes, durch die wir zu Gottes Kindern geworden sind. Erst mit und durch Jesus konnten wir neu in den Bund Gottes mit uns Menschen eintreten. Und nur deshalb sind wir überzeugt, dass Gottes Weisungen auch für uns gelten, dass sein Bund durch Jesus auf alle Menschen erweitert wurde. Und damit der Regenbogen auch für uns bleibendes Zeichen der Verbundenheit mit Gott ist.

Liebe Gemeinde,

am heutigen Sonntag wird an die Taufe als neuer Bund mit Gott gedacht, der Wochenspruch aus Jesaja: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ bildet ein Scharnier hin zur Taufe, die Lesung aus dem Römerbrief deutete die Taufe als Mitsterben und Mitauferstehen in Jesus. Die Lieder erinnern an unsere Taufe. Und mit der Taufe auf seinen Namen bestätigt Gott seinen Bund mit uns.

Liebe Gemeinde,

wir sind bei einem schwierigen Thema: das Verhältnis von Juden und Christen, die Frage nach dem bleibenden Bund Gottes mit seinem jüdischen Volk und dem neuen Bund, der uns Christen zu Gottes Kindern erwählt. Ich bin davon überzeugt, dass Gott seinen Bund erweitert hat auf alle Menschen, die sich zu ihm bekennen und sich seinen Weisungen und Geboten verpflichtet fühlen. Und das heißt, dass alle Getauften sich auf den Beistand Gottes verlassen können, auf einen Gott, der liebt, auf einen Gott, der befreit, auf einen Gott, der handelt.

Der heutige Predigttext aus dem 5. Buch Mose steht in einem Kontext, der das Volk Israel bewusst von anderen Völkern absondert. Sie sollten sich von den „Heiden“ fernhalten, nicht einheiraten, nicht deren Götter und Gebräuche übernehmen, sondern sich an den einen Gott halten. Das gilt nicht mehr in allen Punkten für uns Christen, aber es macht deutlich, dass wir alle, die wir uns in einem Bund mit Gott befinden, nicht einfach ohne Gottbezug vor uns hinleben.

Natürlich gibt es Gesetze des Marktes, Gesetze des Kapitalismus, Gesetze des Egoismus. Wenn aber einzig diese Gesetze die Richtung unseres Lebens bestimmen, dann haben wir uns vom Regenbogen abgewandt, dann ist es Zeit für neue Propheten. Gott, der uns liebt, hofft auf unsere Liebe zu anderen. Gott, der handelt, wartet auf uns als Menschen, die handeln im Sinne seiner Gerechtigkeit. Gott, der uns befreit, hofft, dass wir Unterdrückte befreien!

Gott schloss seinen Bund mit der Erwählung der Unterdrückten, damals im Land Palästina. Doch sein Regenbogen spannt sich weit über unsere gesamte Welt. Wir sind mit hineingenommen in seinen Bund, den er am Himmel malt bis zum Horizont, an dem sich Himmel und Erde, Friede und Gerechtigkeit vereinen.

Im Abendmahl, das wir heute nach so langer Zeit das erste Mal wieder zaghaft feiern wollen, gibt Gott uns Wegzehrung mit für den langen Weg auf seinem Bogen. Denn noch herrschen Krieg und Hunger, Unterdrückung und Gewinnsucht. Doch jeder Regenbogen erinnert uns daran, dass die Welt auch anders sein könnte im Bund mit Gott: bunter, froher, weiter.

Liebe Gemeinde,

wenn denn der Regenbogen das Zeichen für Gottes Bund mit uns Menschen ist, dann ist es doch ziemlich dreist, dass alle möglichen Gruppen und Bewegungen sich diesen auf ihre Fahnen gemalt haben!

 Ja und Nein: denn das Zeitalter des Wassermanns, das gerade wieder in der Alten Oper im Musical Hair besungen wird, es verheißt, dass es Harmonie und Verständnis unter uns Menschen und mit der Schöpfung geben wird. Das hat auch Gott uns verheißen. Wir sollten die Schöpfung bewahren und nicht zerstören. Dafür steht sein Regenbogen. Und auf die Fahnen der Friedensbewegung gehört der Regenbogen genauso, denn Frieden und Gerechtigkeit sollte unter uns nach Gottes Weisungen herrschen. Doch da gab und gibt es immer noch gewaltige Kräfte, die das verhindern wollen. Dagegen steht sein Bogen.

Und auch für Menschen, die nicht in die Norm als heterosexuell passen und immer noch in vielen Ländern dieser Erde unterdrückt oder sogar getötet werden, passt der Regenbogen.  Es ist ein Zeichen von gelebter Buntheit unter uns Menschen, was das Geschlecht, was die Hautfarbe, was die Herkunft betrifft. Wir alle sind Gottes Ebenbilder, wir alle versammeln uns unter Gottes Regenbogen.

Wir brauchen viel Regen und Sonne in diesem Jahr, damit viele Regenbögen Gottes uns an seinen Bund mit uns erinnern, damit wir ihn als Auftrag nehmen in seinem Namen Menschen zu lieben und gerechte Bedingungen für alle zu schaffen.

So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. 12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der Herr, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat. Amen.

Predigt zum 1. Pfingsttag am 31. Mai 2020 von Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

Apostelgeschichte 2, 1-21

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz, Amen.

Liebe Gemeinde,

1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. 2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. 3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, 4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab. 5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. 6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. 7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? 8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? 9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, 10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, 11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. 12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? 13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.

14 Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte! 15 Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde des Tages; 16 sondern das ist’s, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): 17 »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; 18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. 19 Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf; 20 die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt. 21 Und es soll geschehen: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.« Soweit der heutige Predigttext, das Pfingstwunder aus der Apostelgeschichte, Kap. 2.

Liebe Gemeinde,

mit Pfingsten ist das so eine Sache: Pfingstochsen, Pfingsttanz, Pfingstmarkt, ja auch Pfingstweide. Viele Bräuche und viel zu feiern, normalerweise, in dieser schönen Jahreszeit, doch all das hat nur bedingt etwas mit Pfingsten zu tun. Pfingsten ist das ursprüngliche Fest zur Weizenernte, Schawuot. Das Judentum hat dieses Erntefest in seinen Festkalender aufgenommen, am Wochenfest wird an die Gabe der 10 Gebote auf dem Sinai erinnert. Und dieses Jahr fällt unser Pfingsten mit Schawuot zusammen, Freitag wurde es gefeiert, 50 Tage nach dem Passahfest.

Und der Name Pfingsten, italienisch Pentecosta, heißt 50, 50 Tage nach Ostern oder auch 50 Tage nach Pessach. Ein Fest also, dass uns nicht vom jüdischen Glauben trennt, sondern dass auf dem jüdischen Glauben und seinen Festen aufbaut.

Fest der Weizenernte und Jesus, der das Weizenkorn ist, das in die Erde gelegt wird und stirbt, damit es Frucht bringt, all das spielt in der Symbolik mit, aber erschließt sich uns heute nur noch bedingt.

Pfingsten, das Fest, an dem der Heilige Geist ausgegossen wird, der wie Feuerzungen sich auf die Köpfe der Jünger*innen, der Apostel setzt, ich habe es gerade vorgelesen. In vielen sogenannten Pfingstgemeinden wird diese Geistausgießung jeden Sonntag beschworen, besonders natürlich heute an Pfingsten. Wir Evangelischen sind da etwas zurückhaltender, auch Paulus sagte schon, dass es wunderbar ist, wenn jemand vom Geist besessen in Zungen redet, aber es nützt nur etwas, wenn das dann auch so übersetzt werden kann, dass das auch für alle verständlich wird.

In der Schule, in meinen 5. Klassen, habe ich immer gesagt: Pfingsten ist, dass bei mir der Groschen fällt. Mit einem Mal erschließt sich das, was ich von Gott und Jesus gehört habe, mit einem Mal verstehe ich, was Karfreitag und Ostern bedeuten, dass Gott nicht Tod, sondern Leben will und wir dieses Leben großzügig austeilen sollen an alle Menschen.

Und auch dieses Fallen des Groschens, na gut, der Centmünze, kann ich mir nur auf dem Hintergrund des jüdischen Glaubens vorstellen. Beim Schawuotfest wird von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang reihum ununterbrochen gelesen, die wichtigsten Stücke aus der Thora. Und jede*r, der oder die schon einmal in philosophischen Diskussionen, na ja: Gesprächen über Gott und die Welt wirklich versackt ist, der mag erlebt haben: nach stundenlangem Hin- und Her: mit einem Mal geht einem ein Licht auf. Gut, oft spielt dabei auch der Rotwein eine entscheidende Rolle, aber egal: man meint, man hat verstanden, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Oft bleiben davon am nächsten Tag nur ein Kopfschmerz und eine vage Erinnerung übrig, aber hier, bei den Aposteln: sie sind nicht voll der Weins, sie sind voll des Geistes. Sie haben die ganze Nacht über Gottes Weisungen und Gottes Geschichte mit uns gebrütet – und mit einem Mal hat es „Klick“ gemacht: sie haben mit einem Mal verstanden: das, was Gott in seiner Geschichte mit dem jüdischen Volk gelebt hat, das hat er in Jesus Christus neu für alle gelebt, für Menschen aus allen Völkern und Kontinenten, für Parther und Meder und Elamiter und all die anderen, selbst für uns Germanen.

Liebe Gemeinde,

der Geist ist wie Feuerzungen auf die Anhänger Jesu gekommen. Gott in der Feuersäule, das gab es beim Auszug aus Ägypten, als Gott mit Feuer und Wolke die Israeliten geführt und vor den Ägyptern beschützt hat. Gott tut Wunder, damals beim Auszug aus Ägypten, jetzt, indem er Jesus auferweckt hat und an Pfingsten den Anhänger*innen Jesus neuen Mut zum Leben gibt. Gewöhnlich steht die Taube für den Heiligen Geist, aber das Bild mit den Feuerzungen, mit der Erleuchtung der Gemüter, das gefällt mir besser. Erleuchtet von Gottes Geist, das waren die Apostel. In diesen Sog können auch wir hereingezogen werden.

Dear brothers and sisters, on Pentecost God gave his Holy Spirit to the young christian community. They left their fear behind and told everybody from the love of God to all of us and the victory of live beyond the death. Pentecost ist he renewed liberation from slavery. God will unit us together in love for each other and in hope, that there will be justice in our world. And this starts now with the power of the Holy Spirit.

Liebe Gemeinde,

Gott ist gegenwärtig, immer. Durch seinen Geist ist er uns nahe. An Ostern hat das Leben gesiegt, Gott hat Jesus verwandelt und er will auch uns verwandeln. Und das beginnt heute, an Pfingsten. »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; 18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.“ So der Prophet Joel, so Petrus in der Apostelgeschichte.

Wir, wir sollen weissagen, wir sollen Träume haben! Träume, wie unsere Welt aussehen könnte – ohne Leid, ohne Ungerechtigkeit, ohne Angst – und ohne Atemschutzmaske.

Die Jünger*innen Jesu waren nicht trunken vom Wein, sie waren trunken von der Erkenntnis der Liebe Gottes zu uns – und trunken vom Mut, davon anderen zu erzählen und trunken vom Auftrag, diese Liebe zu leben. Pfingsten bedeutet nicht, dass wir verzückt in Zungen lallen, Pfingsten bedeutet, dass wir von der Liebe Gottes zu allen Menschen erzählen und diese Liebe leben. Und auch, wer das vielleicht in Worten nicht versteht; er oder sie wird das spüren, denn Liebe und Zuneigung sind universell. Das merken auch Menschen aus Phrygien und Pamphylien.

Liebe Gemeinde,

momentan weht bei uns nicht der freie Geist der Liebe Gottes, momentan weht der Geist der Ängstlichkeit. Jetzt schlägt die Stunde der Kleinkarierten. Es ist eher der Hauch des schlechten Atems unter der Maske als der „wind of change“, als der Wind der Hoffnung.

Natürlich, wir müssen Abstand halten, auch da, wo wir lieber umarmen würden. Aber das muss die Träume und die Hoffnung auf Gottes Gegenwart nicht ersticken. Gott ist die Lebensmacht, auch wenn wir sterben. In der Nachfolge Jesu wissen wir, dass Liebe stärker ist als der Tod. Gottes Geist gibt uns den Mut festzuhalten an der Botschaft Gottes. Er schenkt uns Hoffnung für unser Leben und für die ganze Welt. Unser Leben und unsere politischen Entscheidungen sind nicht alternativlos. So wie Gott sich in Jesus für alle Menschen, alle Geschlechter, alle Völker geöffnet hat, so brauchen wir uns nicht mit dem Klein-klein unseres Lebens, mit dem peniblen Befolgen von Regeln abzufinden, sondern sind ermutigt weiterzuschauen und weiter zu brennen für eine Welt, in der Gerechtigkeit und Friede sich küssen.

Gottes Geist weht wo er will, doch hoffentlich auch in unseren Herzen und Hirnen. Damit wir mutig werden. Mutig angesichts von Einschränkungen und Angst, mutig angesichts großer Herausforderungen für unser Leben und für die Zukunft unseres Gemeinwesens. Wir brauchen keine Angst zu haben, von unserer Hoffnung für die Welt zu erzählen. Gott hat die Welt und uns in seiner Hand. Er kann unseren Blick schärfen für Liebe und für ein neues Miteinander, das offen ist für Menschen aus aller Welt, egal, ob die Flugzeuge momentan fliegen oder nicht, egal, ob wir Masken tragen müssen und uns nur im Internet begegnen.

Liebe Gemeinde, wir dürfen zu Gott beten und ihn bitten, uns seinen Heiligen Geist der Liebe und der Wahrheit zu schicken. „Höchster, mache deine Güte alle Morgen neu“. So heißt es in der Kantate, die wir gleich hören werden. Sie ist ein lauter Jubel und eine Bitte um Gottes Beistand. Und das Halleluja, mit dem die Kantate endet: inniger kann keine Zungenrede, bewegt von Gottes Geist, den Dank für Gottes Gegenwart herausrufen. Pfingsten ist das Fest, uns der Liebe Gottes zu vergewissern und mit der ganzen Welt Mut zu schöpfen, Gottes Verheißungen zu trauen und sie auch zu leben, Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft und Einsicht, er bewahre unsere Herzen und sinn in Christus Jesus, Amen.

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Predigt zum Sonntag Jubilate am 3. Mai 2020 von Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

Joh. Seb. Bach „Liebster Jesu, wir sind hier“ BWV 731
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen
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Suche nach Kraft und Leben – Predigttext: Johannes 15, 1-8

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz, Amen.

Liebe*r Besucher*in der Homepage,

nächste Woche wird endlich wieder „richtiger“ Gottesdienst sein! So professionell manche Fernsehübertragung daherkommt, so kreativ manche Internetgottesdienste auch sind, für mich ist das alles doch nur ein Notbehelf. Zunehmend fühlte ich mich vertrocknet, abgeschnitten vom richtigen Leben, nicht nur vom Gottesdienstfeiern, auch von der sonstigen Kommunikation oder einem kurzen Treffen in einem Café bei einem Cappuccino! Wie der Garten, der nun schon seit 6 Wochen nach Wasser dürstet und wo ohne Bewässerung die Erdbeeren oder die Radieschen verkümmern.

Zu unserem Klima, das sich ja dem Mittelmeerraum annähert, passt auch der Predigttext von heute. Jesus als Mittelmeeranrainer hat dort nicht Äpfel oder Erdbeeren im Blick, sondern Reben: Der Predigttext steht im Johannesevangelium im 15. Kapitel (1-8):

1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. 2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. 8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. Soweit der Predigttext.

 „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Dieses „Ich-bin-Wort“ Jesu leuchtet unmittelbar ein: da ist der Weinstock, er versorgt die Reben mit Wasser und Mineralien, er legt den Grundstock für einen guten Wein. Wir empfangen von ihm alles, was wir zum Leben und Gedeihen brauchen. Aus diesem Bild, das Jesu seinen Jüngern sagt, wurden ganze Kirchen im Rheingau gestaltet, in Kiedrich sind die Kirchbänke mit Weinranken geschnitzt, in der Lutherkirche in Wiesbaden sind die Decken mit Weinmosaiken gestaltet, selbst in unserer Katharinenkirche gibt es ein meist übersehenes Fresko vom Weinstock und seinen Reben von Charles Crodel. Es befindet sich über der Tür im Vorraum des Westeingangs. Zugegeben, es ist nicht sein bestes Werk, verlockender eher der von ihm gestaltete Putto auf einem der Südfenster, der sich Trauben munden lässt. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Jesus ist der Weinstock, wir sind die Reben. Von ihm zehren wir, von ihm bekommen wir den Saft und die Kraft zum Leben, unsere Süße.

Das, was Jesus in diesem Bild vom Weinstock ausführt, ist jedem Winzer bekannt, leuchtet aber genauso jedem landwirtschaftlich unbelecktem Weintrinker ein. Gerade jetzt im Monat Mai, wo die Arbeit auf den Weinbergen an Fahrt zunimmt und es demnächst auch Traubenblütenfeste gäbe, wären nicht dieses Jahr solche Feste verboten.

Das Wort vom Weinstock und den Reben hat zwei Aspekte: „Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.“

Dieses ist der “harte“ Teil des Bildwortes: Gott wird als Weingärtner alle unfruchtbaren und sauren Trauben ausgeizen, damit die guten Trauen mehr Saft bekommen. Momentan wird im Weinberg der zweite Schnitt durchgeführt, Nebentriebe entfernt. Auch bei meinem Pfirsichbäumchen und den Apfelbäumen ist es jetzt dran, dass ich die kleineren Fruchtansätze entferne, damit die anderen mehr Kraft bekommen und dann größere Früchte entwickeln. Das ist normal in der Landwirtschaft, das kannten die Hörer*innen von Jesus.

Das aber übertragen auf Menschen, auf Anhänger Jesu klingt nach Sozialdarwinismus: survival of the fittest. Gerade in unserer momentanen Situation geht es aber darum, Geschwächte, Vorbelastete nicht ihrem Schicksal zu überlassen, sondern besonders zu schützen. Doch leider zeigt die Realität oftmals auch in dieser Pandemie: die einen haben Privatkrankenhäuser, die anderen aus den Favelas, die Gastarbeiter in vielen Ländern dieser Welt, die bleiben sich und ihrem Schicksal überlassen.

Dieses ist für mich der problematische Aspekt an unserem Predigttext, aber er ist eher das Nebengleis. Denn Johannes geht es darum zu betonen, dass wir, dass wir Gläubigen mit Jesus verbunden sind und auch bleiben müssen wie eine Rebe mit dem Weinstock, damit wir Frucht bringen.

Es geht um unser Verhältnis als Gläubige, als Gemeinde zu Jesus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ So der Wochenspruch aus dem 2. Korintherbrief. Wenn wir mit Christus verbunden sind, dann bekommen wir von ihm Kraft zum Leben, dann bringen wir süße Frucht, dann werden wir eine neue Kreatur. „Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ So Jesus im Predigttext.

Von dieser Kraft fühlte ich mich in den letzten Wochen manchmal abgeschnitten. Ich hatte ja noch den Vorteil, ich bin immer mal in die Kirche gekommen, habe mich hingesetzt, gebetet, die Atmosphäre genossen. Ich weiß, es ist nicht evangelisch, ein Kirchraum ist nach evangelischem Verständnis nichts besonderes, Bibel lesen kann ich überall, beten auch, aber trotzdem: die Katharinenkirche ist für mich eine Kraftquelle, ein sichtbares Zeichen, dass ich, dass wir mit Christus verbunden sind.

Glaube braucht auch Orte, Weinstöcke, Kraftquellen, aus denen wir schöpfen können. Wo und was diese Kraftquellen sind, das ist sicher individuell sehr unterschiedlich. Meinen Saft und meinen Glauben, den sauge ich aus der Botschaft Gottes an uns Menschen, aus dem Wahrnehmen der Schöpfung Gottes. Aber für meinen Auftrag, in der Welt Gottes Liebe zu leben, da brauche ich auch Orte, an denen ich auftanken kann.

Unser Hauswinzer aus Rheinhessen hat einige Sorten, da ist bewusst vermerkt: Alte Reben. Diese Weine haben eine größere Tiefe und Fülle. Ich mag auch frischen, spritzigen Wein, einen leichten Rosé, einen leichten weißen Sommerwein. Aber alte Reben bringen Früchte hervor, die mehr Mineralien haben, gesättigter sind. So ist das auch mit dem Glauben: ein frischer Glaube kann inspirierend, lebendig sein, mitreißend. Aber ein Glaube muss auch wachsen, sich verwurzeln, reifen. Wie guter Wein. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Wachsen, reifen gedeihen, Stürmen trotzen und Anfechtungen, das alles zählt zum Glauben.

Momentan erleben wir gerade solch eine Anfechtung, ich zumindest. Trägt mein Glaube in einer Zeit, in der es nicht genügt, freudig die gute Schöpfung Gottes zu loben und moralische Appelle über dies und das in die Welt zu schicken? Sitzt Gott für mich im Regiment einer Welt, die von Schönheit und Leid, von Zuversicht und Entsetzen geprägt ist? Kann ich an Gott festhalten, wenn die alten Sicherheiten mir abhandenkommen und ich mit einem Mal merke, dass unser Leben fragil, unsicher ist?

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Als die Reblaus Mitte des 19. Jahrhunderts aus den USA nach Europa kam, vernichtete sie viele Weinstöcke, ganze Weinbaugebiete. Erst langsam gelang es durch Züchtungen und Pfropfen resistente Weinstöcke zu pflanzen. Da brauchte es Weingärtner, die nicht aufgaben, sondern ihre Weinstöcke schützten. Dies ist Gottes Aufgabe: er schützt uns vor Anfechtung und Krankheit. Er ist meine Adresse für Klage und meine Hoffnung auf Leben, auch wenn ich sterben muss.

Das Bildwort vom Weinstock und den Reben steht im Johannesevangelium im Kontext der Passion. Jesus gibt uns Saft, auch wenn es manchmal bitterer Trank ist. Das Abendmahl kann uns süßen Trost geben, obwohl Jesus es seinen Jüngern in der Nacht austeilte, in der er seinen Mördern ausgeliefert wurde. Wir bekommen von Gott nicht nur Milch zu trinken, wir bekommen auch die bittere Realität und das Entsetzen geliefert. Ich sehe nicht nur blühende Fliederbäume, ich sehe auch die Bilder von den Kühlwagen vor den Krankenhäusern in New York und die Schlange der Krankenwagen vor den Kliniken in Moskau. Doch auch, wenn ich Angst habe um meine Existenz, meine Zukunft, mein Leben: Gott versorgt mich auch noch am Kreuz mit Wasser, Mineralien und Sonne, dass ich reifen kann und guten Wein hervorbringen.

Aus dem Triumphkreuz im Schweriner Dom wachsen Weinreben und Blätter. Glaube heißt hoffen, manchmal auch gegen die Realität. Glauben heißt leben von Ostern her. Gott hat uns verheißen, dass wir, wenn wir bei aller Anfechtung am Glauben festhalten, am Weinstock bleiben und gute Früchte hervorbringen und mit dem Wein die Herzen der Menschen berühren und erfreuen. Er ist der Weinstock, wir sind die Reben. Gott schenkt uns Kraft für all das, was wir im Leben und im Sterben bewältigen müssen, Amen.

Bleiben Sie behütet! Ihr Pfr. Dr. Olaf Lewerenz

Joh. Seb. Bach „PräludiumG-Dur“ BWV 568
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen
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Predigt zum 2. Sonntag nach Ostern Misericoridias Domini am 26. April 2020 von Pfarrerin Dr. Gita Leber

Marco Antonio Cavazzoni (um 1490 – nach 1559) „Salve Virgo”
Martin Lücker an der Johann-Patroklus-Möller-Orgel (1736) der Abtei 
Marienmünster
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Von der Barmherzigkeit Gottes – Predigttext: 1.Petrus 2, 20-25

Gnade sei mit Euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,
denken wir daran: Wir müssen alles erwarten. Auch das Gute.
Das ist auch eine Gnadenerfahrung.

Denken wir daran: Wir müssen alles erwarten. Auch den Guten.

Den guten Hirten. Das Johannes-Evangelium nennt Jesus den „guten Hirten“. Der Gedanke, von Jesus als dem guten Hirten begleitet zu sein, seinen Geist in sich zu tragen, kann eine Hoffnungsperspektive für all die sein, die sich in den Wüsten ihres Lebens befinden. Der Verfasser des 1. Petrusbriefs nennt Christus „den Hirten und Bischof eurer Seelen“. Der Verfasser stellt sich die, die seinen Brief lesen, als solche vor, die bereits durch Jesus „heil geworden“ (V.24) sind. Er stellt sich die vor, die erfahren haben, dass sie geliebt werden und deshalb aus einer Position der Stärke heraus ihren schweren Weg gehen. Und er stellt sich die vor, die aus ihrem Glauben zugleich in ihrer Resilienz gestärkt werden.  Aus diesem Grund haben sie einen ethischen Grundsatz gefunden. Eine ethische Einsicht, die sie selbst als Konsequenz des Glaubens ausbuchstabieren würden und so vielleicht auch schon leben: ohne Beschimpfung, ohne Vergeltung.

Der Verfasser verweist auf Christus den Seelen-Hirten. Er nahm bereitwillig (als „Gottesknecht“) Leid und Unrecht auf sich; so wurde er zum „Vorbild“ (V.21) derer, die gegenwärtig leiden. Geduldetes Leid ist der Modus der Nachfolge und wird als Gnadenerfahrung gedeutet.

Denken wir daran: Wir müssen alles erwarten. Auch das Gute.

Das ist auch eine Gnadenerfahrung.

Hier der Predigttext:

1.Petrus 2, 20-25

„20 Welchen Ruhm soll es euch denn einbringen, wenn ihr Schläge aushaltet, weil ihr Unrecht tut? Aber wenn ihr Gutes tut und deswegen Leiden ertragt – das ist wirklich eine Gnade von Gott. 21 Dazu hat er euch nämlich berufen. Denn auch Christus hat für euch gelitten. Er hat euch ein Beispiel gegeben, damit ihr ihm in seiner Fußspur nachfolgt. 22 Er hat keine Schuld auf sich geladen und aus seinem Mund kam nie ein unwahres Wort. 23 Wenn er beschimpft wurde, gab er es nicht zurück. Wenn er litt, drohte er nicht mit Vergeltung. Sondern er übergab seine Sache dem gerechten Richter. 24 Er selbst hat unsere Sünde mit seinem eigenen Leib hinaufgetragen an das Holz. Dadurch sind wir für die Sünde tot und können für die Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. 25 Ihr wart wie Schafe, die sich verirrt hatten. Aber jetzt seid ihr zu eurem Hirten und Beschützer zurückgekehrt.“ (Übersetzung aus der Basis-Bibel)

Der Verfasser spricht Sklaven an, die Christen geworden waren. Ein Sklave zählte nicht. Nicht als Person. Nur als Arbeitskraft. Als Menschen waren sie egal. Nichts fanden die Römer so lächerlich am Christentum wie dies, dass es eine Religion für Sklaven sei. Und doch ist es so: Ob Mann oder Frau, Sklavin oder Bürger, Hautfarbe, sexuelle Orientierung: Hier zählt jede und jeder. Eine Erfahrung von Gnade. Der barmherzige Gott.

Wir leben rund 2000 Jahre später. Wir in Deutschland leben nicht in der Sklaverei. Wir wissen aber, dass Christinnen und Christen in anderen Ländern  verfolgt werden; in der Arbeit versklavt. Und wir in Frankfurt? Wir leben frei – zurzeit unter sehr besonderen Umständen, zum Schutz von Leben, in unserer Freiheit vorübergehend eingeschränkt. Doch auch wir leiden an Erfahrungen (vielleicht gerade in diesen Wochen der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus) wie diesen: uns trifft eine unbesiegbare Krankheit; uns trifft die Härte eines Verlusts – eines Menschen, der uneingeschränkten Bewegungsfreiheit, der geistigen Klarheit, der Arbeitsstelle; uns plagt die Schwermut; uns fehlt etwas oder jemand…

Denken wir daran: Wir müssen alles erwarten:  Auch das Gute.

Denn wir erleben auch:

Die Nähe, die wir gespürt haben, treibt uns aufeinander zu. Die Vergebung, die wir erfahren haben, lässt uns vergeben. Der Tod des Hirten und seine Auferstehung am Ostertag entlassen uns in die Freiheit und in die Verantwortung für unser Leben und das Leben aller Menschen. Kindliche Prägungen haben wir bekommen: Das Bild vom guten Hirten, der sein Lämmchen auf den Armen trägt. Ja, kindliche Prägungen: Da kommst du her. Aus Worten wie diesen: Fürchte dich nicht. Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen. Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Der ohne Sünde werfe den ersten Stein. Aus Gesten wie diesen bist du geboren: Er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie. Schrieb in den Sand, und bedrohte den Sturm. Erinnere dich in deinem Leben daran. Tue es. Die Wölfe werden dir so nichts anhaben können. Sie werden da sein. Sie werden dir Angst machen. Du wirst erschrecken. Aber fressen werden sie dich nicht. So werden eine Herde und ein Hirte sein. Man wird den Hirten / die Hirtin an dir erkennen. Du bist mit ihm verwandt: Bruder und Schwester des Christus, indem du tust, wie er getan hat. Auch als Arzt und Richterin und Sachbearbeiter. Hirtinnen und Hirten weit und breit. Wenn auch du dein Leben an die Welt verlierst und die Prägungen der Kindheit – die schönen Hirtenbilder von Jesus – als nicht relevant im Moment abtust. Auch wenn du dich an die Schönheit der Schöpfung verlierst – in Urlauben und Freizeitaktivitäten. Auch wenn du dich an die Würde eines jeden Menschen verlierst. An die Zukunft deiner Kinder. An das Gedächtnis deiner Mütter und Väter. Dir gehört nicht nur dein heute. Dein Eigentum ist auch der Tag deines ungeborenen Enkelkindes. Eigentum verpflichtet. Dein Leben verpflichtet dich für die Menschheit und für die Welt. Du kannst das jetzt selbst. Es braucht keinen Hirten Jesus, der im Hier und Heute lebt. Er lebt in dir. Der eine Mensch hat den einen Tod überwunden und darin auch deinen. Ewiges Leben hast du schon. Jetzt lebe für das Leben. So nützt es der ganzen Welt. Und vergiss nicht: Wir müssen mit allem rechnen. Auch mit dem Guten. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Girolamo Frescobaldi (1583–1643) Canzona quarta in F
Martin Lücker an der Johann-Patroklus-Möller-Orgel (1736) der Abtei
Marienmünster


Predigt zum Sonntag Quasimodogeniti am 19. April 2010 von Pfarrerin Dr. Gita Leber

Joh. Seb. Bach „Sonate E-Dur“ BWV 1035,1
Sebastian Wittiber, Flöte; Martin Lücker, Orgel

„Gnade sei mit Euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt.“ Amen.

Liebe Gemeinde!

Der Bibeltext für die heutige Auslegung stammt aus dem Trostbuch des Jesaja; aus dem Kapitel: „Des Herrn tröstendes Wort an sein Volk“.

Trostbedürftig sind Viele von uns in dieser Zeit. Diejenigen, denen die körperliche Nähe ihrer Liebsten fehlt, überhaupt der räumliche Kontakt; diejenigen, denen die Erwerbsarbeit verloren gegangen ist oder ihr Geschäft als Ganzes. Trost brauchen die Sterbenden und alle jene, die einen Menschen verloren haben. Trost brauchen die Kranken und die Pflegenden. Hoffnung die Forschenden. Trost brauchen all die, die sich nach den Gottesdiensten in der Kirche und nach den geselligen Angeboten ihrer Kirche sehnen. Trost die Kinder, die es zu Hause schwer haben unter den Lebensbedingungen in ihren Familien. Kraft brauchen die, denen die Geduld ausgeht, zu warten, wie alles ausgehen wird – jetzt in der Krise der Corona-Pandemie.

Der Bibeltext des zweiten Jesaja setzt mit einem Hinweis auf Gottes Größe ein. Es ist ein Hinweis auf den Schöpfergott, dem wir das Leben verdanken.

Predigttext: Jesaja 40, 26-31

26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.

27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?

28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.

29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.

30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen;

31 aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

„Seht! Wer hat all dies geschaffen?“

So beginnt diese enorme Zusage von Kraft und Hoffnung mit dem Verweis auf den Schöpfergott. Gott hat alles erschaffen. Er wird es auch erhalten. Er hat alles gut erschaffen. Er wird es auch erhalten.

„Er führt ihr Heer vollzählig heraus.“

Das führt zu unserem Widerspruch in diesen Tagen. Es sterben doch weltweit durch Kriege und Attentate, durch falsches Wirtschaften und durch Verachtung der Armen, durch Epidemien und fehlender medizinischer Hilfe ungezählte Menschen! Der Zweifel an Gottes Beistand tritt auf die Bahn.

Dagegen setzt der zweite Jesaja: Gott gibt den Müden Kraft.

Im Alten wie im Neuen Testament wird bezeugt: Das Leben ist Geschenk aus Gottes Hand und es kehrt zurück zu Gott. Und Gott liebt das Leben und nicht den Tod. Gott ist ein Gott des Lebens. Das wirkt Trost und Hoffnung.

Vor einer Woche haben wir Ostern gefeiert. Auch heute soll die frohe Botschaft von der Auferstehung bei uns bleiben. Die Osterbotschaft hat Menschen immer wieder vor die Frage gestellt: Was bedeutet dies für mich und mein Leben? Paulus hat mit allem, was er gesagt und geschrieben hat, bekannt: Weder Krankheit noch anderes, was uns bedrückt und erschöpft, noch der Tod wird in keinem Leben das letzte Wort haben.

Was heißt das konkret? Mit dieser Frage begegne ich dem Geheimnis des Lebens. So wie Gott das Geheimnis dieser Welt ist, so bleibt das Leben nach dem Tod Gottes Geheimnis für uns. Dazu gehören immer Fragen und Zweifel. Wie es sein wird, können wir nicht mit unseren Gedanken denken und unseren Worten beschreiben. Wie wir aus der Corona-Krise und aus unserer persönlichen Krise herauskommen, das wissen wir an einen bestimmten Punkt auch nicht. Jetzt brennt auch noch der Wald rum um Tschernobyl und die Radioaktivität des Reaktorunglücks macht den Menschen in Kiew Angst. Es gibt im Leben Vieles, was wir nicht „im Griff“ haben. Wir sind auf Gottes Kraft angewiesen. Diese Kraft kann uns zur Vernunft und zur Verantwortung führen: so zu handeln, dass das Leben nicht gefährdet wird; dass es ein gutes Leben für alle wird. Und es gilt für mich auch: Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist manchmal das Letzte was bleibt.

Ich habe im Laufe meines Lebens viele Menschen gesprochen, die mir von ihrer wiedergewonnen Kraft erzählt haben. Auch selbst habe ich Gottes Kraft immer wieder erhofft und eines Tages auch wieder erfahren. „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. … die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Wer so glaubt, findet in diesem Leben Kraft, Schweres zu ertragen. Es gibt Situationen, die so schlimm und ausweglos sind, da bleibt die Akzeptanz, dass es so ist und nicht anders, die einzige Hoffnung. Jesus selbst hat dies so erlebt. Sterbend am Kreuz sagt er: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ So ist die Hoffnung auf ein Leben jenseits des Todes manchmal das Letzte was bleibt – in einer Krankheit, die den Tod bringt und in großer Bedrängnis.

Wir sind sterblich. Unser Leben ist nun einmal von Beginn an immer auch ein Gang auf das Ende zu. Natürlich ist das Leben noch viel mehr. Es ist wachsen, reifen und ernten. Es ist feiern und fröhlich sein. Und es ist immer auch sterben und banges fragen nach dem, was mein Leben, die schönen und hässlichen Zufälle, die belanglosen und wichtigen Begebenheiten zusammenhält. Das Leben ist vergänglich und letztlich auch Mühe, Arbeit und Leid. Wir können Vieles gestalten und Vieles ist uns auch unverfügbar.

Die prophetische Stimme setzt gerade an dieser Stelle einen starken Kontrapunkt zu unserer Vergänglichkeit und zur Zusammenhangslosigkeit unseres Lebens. Dieser Kontrapunkt ist das Wort unseres Gottes. Es ist zuverlässig und zeitübergreifend. Und es ist so konkret wie konzentriert:

 „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. … die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Gott denkt an uns Menschen. Der Mensch steht mit seiner Geschichte, mit seinem ganz persönlichen Schicksal, seiner individuellen Biografie nicht allein. Gott nimmt sich des Menschen an. Gott greift in unser Leben heilsam ein. Gott denkt an uns und wendet unser Leben.

Gottes Kraft zum Leben ist stärker als der Tod. Uns bleibt einzig und allein, dies zu hoffen, zu glauben und zu lieben.

Jesus Christus hat diese Hoffnung gelebt. Er hat sie mit seinem Leben bezeugt, auch mit seinem Tod und mit seiner Auferstehung. Deshalb: „Christ will unser Trost sein. Kyrieleis“.

Im Glauben an Gott kommt eine Hoffnung in unser Leben, die über den Tod hinausgeht. Dieser Glaube gibt Kraft, nicht zu verzweifeln, getröstet und getrost zu sein und andere zu stärken und für sie da zu sein. Der Glaube gibt Kraft für das Leben. Er ist Ermutigung, sich selbst zu vertrauen, weil Gott mir vertraut.

Jesus Christus hat mit seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt, dass der Sinn des Lebens nichts anderes ist, als mit Gott zu rechnen. Nach Gott zu fragen. Ihn mit meiner ganzen Lebenskraft – und manchmal auch in meiner Erschöpfung und in meinem Zweifel – zu suchen. Immer wieder zu suchen und zu entdecken, wo Gott ist. Dass er IST. Dazu braucht es Stille und Geduld sowie das Lesen in der Bibel und das Lesen von geistlichen Gedanken.

Noch einmal zum Anfang des Trosttextes zurück:

„Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen?“

Der Inhaber eines kleinen Bekleidungsgeschäfts sagte dieser Tage: Die Leute werden sich überlegen, ob sie sich ein T-Shirt kaufen oder ein paar schicke Sneakers. – Nach der Krise durch die Corona-Pandemie werden wir zu mehr Nachhaltigkeit gerufen sein. Wir werden hoffentlich aufmerksamer auf Gottes Schöpfung wirtschaften und konsumieren. Daraus kann für die gesamte Schöpfung wieder Erholung und neue Kraft entstehen. Die Luft ist jetzt schon reiner unter unserem Himmel, in unserer Stadt Frankfurt am Main.

Der Glaube gibt Kraft für das Leben: getrost zu hoffen und zu lieben, liebend zu handeln, hoffend zu trösten. Amen.

Joh. Seb. Bach „Siciliano“ BWV 1030
Sebastian Wittiber, Flöte; Martin Lücker, Orgel

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Predigt zum Ostersonntag, 12. April 2020 von Pfarrer Dr. Heinemann

Ostern auf dem Wege

Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!  Amen

Endlich Ostern! Aus der Dunkelheit der Nacht und des Karfreitags ins Licht eines neuen Morgens. Die Osterkerze. Die wunderbaren Choräle: Gelobt sei Gott im höchsten Thron. Auf, auf, mein Herz, mit Freuden. Und natürlich, feierlich, jubelnd, erhaben: Christ ist erstanden.

Und wie sehr hatte ich mich auf dieses Ostern gefreut. Gemeinsam zu feiern, alle zusammen, in St. Katharinen: Kantatengottesdienst, volle Kirche, Abendmahl. Und „meine“ erste Predigt am Ostersonntag. Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht, Ostermontag – alles schon oft gestaltet. Aber den Ostersonntag eben noch nie. Wie groß war meine Vorfreude. Endlich Ostern!

Doch in diesem Jahr: alles anders. Fast fühlt es sich an wie ein Ostern inmitten einer Passionszeit ohne Ende. Eine kleine Insel Hoffnung in einem Ozean von Anstrengung und Ungewissheit. Ein kleines Licht im Dunkel der Zeit.

Wie ein Ostern auf dem Wege, und nicht am Ziel.

Dazu passt die Geschichte der Emmaus-Jünger. Sie steht im Lukasevangelium, in Kapitel 24, die Verse 13 bis 33:

Zwei von den Jüngern gingen an demselben Tag in ein Dorf, (…) dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten.

Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen: „Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?“

Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: (…) „Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist.

Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.“

Und er sprach zu ihnen: „O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ (…)

Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und [Jesus] stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: „Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.“ Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.

Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.

Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.

Und er verschwand vor ihnen.

Und sie sprachen untereinander: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“

Und sie standen auf zu derselben Stunde, [und] kehrten zurück nach Jerusalem.

Da gehen sie nun, die beiden Jünger. Nur weg von Jerusalem. Weg von der Hoffnung und ihren Träumen. Weg von ihrem Glauben.

Und dabei sind sie tieftraurig. Verzweifelt. Beinahe schon depressiv. „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ So spricht jemand, dessen Hoffnungen enttäuscht und zerschlagen sind.

Die Trauer, die Erschütterung und Ungewissheit haben sie so fest im Griff, dass sie den Unbekannten kaum bemerken, der zu ihnen stößt. Fragen stellt er, als wisse er rein gar nichts. Und doch kommen sie darüber ins Erzählen. Einer der beiden, Kleopas, rollt noch einmal die ganze Geschichte auf: Jesus von Nazareth, Prophet, mächtig in Wort und Tat, Prozess, Tod am Kreuz, Engelserscheinung, leeres Grab. Die beiden sehen, wissen, kennen die ganze Story – und doch auch nicht.

Aber eines ist deutlich: Sie können das, was sie so sehr bewegt hat, auch nicht einfach loslassen. Sie sind darein vertieft. Der Glaube, so schwach wie eine zittrige Flamme, treibt sie trotzdem um.

Eigenartig die Reaktion des Fremden: Er schimpft sie. Und erzählt ihnen dann im Grunde noch einmal genau das, was sie doch schon wissen und kennen. Nur anders. Behauptet, der Christus sei nicht weg. Sondern in all dem, was sie so verzweifeln lässt: da.

Jedenfalls: die beiden hören zu. Später dann – aber auch erst dann –, werden sie aussprechen, was sie schon dort berührte: Der Unerkannte spricht, schimpft, erklärt – und ihre Herzen „brennen“. Was sie mit ihm erleben, fasst sie an. Es be-geistert sie.

So sehr, dass sie ihn bitten, doch zu bleiben. „Bleibe bei uns; denn es will Abend werden“ – daraus spricht beides: Die Nähe, das Vertrauen, das zu dem Fremden entstanden ist, auf dem Wege. Und die Furcht vor Nacht und Dunkelheit. Was, wenn ringsum alles Vertraute, alle Orientierung im Dunkel der Ungewissheit zu verschwinden drohen?

Später dann, bei Tisch: die vertrauten Gesten und Worte. Geteiltes Brot, gemeinsames Mahl. „Und sie erkannten ihn.“ – das, was das Gespräch, der Disput unterwegs vorbereitet hat, kommt jetzt, in der Tischgemeinschaft, ans Ziel. Der Dialog bereitet vor. Die Gemeinschaft lässt es erleben: Christus ist da, mitten unter uns. Fülle des Lebens. Hier, jetzt, alle Tage.

Und ich frage mich: War das vorher, auf dem Wege – war das schon Ostern?

Also da, als die Jünger ohne Hoffnung sind, und orientierungslos. Als sie zwar die ganze Geschichte kennen. Es irgendwie wissen, dass am Ende Licht und Leben stehen, und nicht der Tod. Sie es aber nicht wirklich glauben können, tränenverhangen, verunsichert, ängstlich, wie sie sind.

Also wir, auf den Wegen des Lebens, immer wieder. Und besonders eben jetzt in diesen Tagen, wo binnen weniger Wochen alles zerfallen ist, was doch so selbstverständlich und sicher schien. Wo die Furcht vor der Krankheit den Alltag bestimmt. Wo fast jeder von uns an Grenzen kommt, emotional, nervlich, nicht wenige auch finanziell, existenziell. Dass wir Ostern nicht in der Kirche feiern können – so wie doch immer!! –, scheint da beinahe Nebensache …

Wo wir also Ostern kaum spüren können, mitten in diesem Ozean von Ungewissheit – ist es da trotzdem da, mitten auf dem Wege?

Die Geschichte der Emmaus-Jünger sagt: Ja. Christus ist da, die ganze Zeit. Dort, wo wir intensiv ringen, mit dem Glauben, mit der Welt. Wo es uns nicht loslässt, in all seiner Unbegreiflichkeit, dieses „Gott ist da“ – da ist er im Zweifel und im Ringen tatsächlich mitten unter uns. Selbst wenn unsere Augen „gehalten“ werden, sodass wir es nicht sehen können. Gott geht mit, auch unerkannt.

Er ist dort, wo unsere Herzen „brennen“. Oder wo es doch zumindest kurz aufflackert, das Licht. Vielleicht in dem Telefonat, wo mir mein Gegenüber viel näher ist als ich es erwartet hätte, nach all der Zeit. Vielleicht wo wir uns – in der Anstrengung des ungewohnten Rahmens – noch einmal neu und anders und intensiver begegnen, in den Familien, in den Beziehungen. Vielleicht wo wir uns Gedanken machen über die Situation, über unser globales Zusammenleben. Darüber, wie wir als Gesellschaft leben wollen, was uns wichtig ist – später, nach der Erschütterung, die wir uns so nicht vorstellen konnten. Vielleicht wo uns noch einmal neu deutlich wird, wie sehr wir einander brauchen.

Denn ja, die Geschichte verspricht auch: Es wird wieder Gemeinschaft sein. Echt, nicht nur virtuell und auf Distanz. Es wird wieder Abendmahl sein – und dann werden wir die Fülle erleben. Dann wird der Christus zurückstrahlen, auch in das Dunkel unserer jetzigen Tage.

Und noch etwas sagt die Geschichte. Etwas, was gilt, in diesen Zeiten wie in allen anderen Zeiten auch: Mit Ostern, mit der Auferweckung und dem Glauben, da ist es immer zart und fragil. Die Emmaus-Jünger berichten es, in doppelter Brechung, wie distanziert: Die Frauen hätten erzählt, dass eine Erscheinung von Engeln erzählt hätte … und dann noch im Konjunktiv: „er lebe“. Alles vorsichtig und tastend. Als ginge es, wo wir ans Zentrum des Glaubens herantreten, gar nicht anders als indirekt und in sehr persönlicher Perspektive.

Und tatsächlich ist es in der Bibel so, dass jeder und jede sein ganz eigenes, individuelles Ostererlebnis braucht – und auch bekommt:

Die Frauen trauen sich als erste ans Grab, die Engelserscheinung mit der ungeheuerlichen Botschaft gilt ihnen – sie rennen in Furcht davon, und sind genau in ihrer Erschütterung die ersten authentischen Zeuginnen.

Petrus, immer schillernd zwischen Glaubensmut und Angst vor der eigenen Courage, traut sich ans Grab, findet’s wie beschrieben, wird kaum gewusst haben, wie vor und wie zurück – schon bald erscheint ihm der Christus, zugewandt und voller Liebe.

Thomas, Urbild allen Zweifels, möchte noch die Wunden an den Händen des Auferweckten sehen, als Zeichen dafür, dass der es wirklich ist – noch dies wird ihm im Geist gewährt.

Paulus, ein Eiferer, ein Hundertzehnprozentiger – ihn wirft es bei Damaskus zu Boden und aus seinem alten Leben, hinein in ein neues Leben, in Christus.

Und die Emmaus-Jünger, verzweifelt und orientierungslos, brauchen beides, den Dialog und das gemeinsame Mahl, das sie an bessere Zeiten erinnert und für die neue Zeit öffnet.

So zeigt sich Ostern, vorsichtig, in seiner Zärtlichkeit mächtig, für Dich und für mich. So, wie wir es fassen können, ein jeder und eine jede Einzelne von uns.

Wirkliche, volle Kraft wird dieses Ostererleben anderwärts entfalten. Dann, wenn sich alle diese individuellen Geschichten der ersten Jüngerinnen und Jünger – wenn sich unsere individuellen Glaubensgeschichten – miteinander verbinden. Dafür steht Pfingsten. Dann wird jenes Brennen, das die beiden Emmaus-Jünger in ihren Herzen spüren auf dem Wege, über die in Jerusalem Versammelten kommen. Als Gemeinschaft wird es sie erfassen, das Feuer des Glaubens und des Geistes.

Im Miteinander entwickelt er Kraft, der Glauben, in einer Welt, die zu allen Zeiten immer auch todesumfangen und karfreitäglich war und sein wird. Im Austausch wachsen Hoffnung und Orientierung, in einer Welt, die immer auch unübersichtlich und bedrohlich ist.

Was mit Ostern zart beginnt, kommt mit Pfingsten machtvoll ans Ziel. So erzählen es die biblischen Geschichten. Und so ist es auch in diesen ungewöhnlichen Zeiten eine Hoffnungsperspektive: Wir werden wieder miteinander Gemeinschaft haben, gemeinsam singen und beten, wir werden Brot und Kelch wieder teilen. Dann wird es hell leuchten, das Osterlicht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.                Amen

Predigt zum Karfreitag, 10. April 2020 von Pfarrerin Dr. Leber
Predigttext: Johannes 19,16-30

Joh. Seb. Bach „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ BWV 623
Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

„Gnade sei mit Euch von dem der da ist und dem, der da war und der da kommt. Amen.“

Liebe Gemeinde!

„Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.“ So dichtet Paul Gerhardt. Und in einer anderen Strophe: „Von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht.“ Da ist einmal die Bitte: Wenn ich sterbe, lass mich nicht allein. Und zweitens das Versprechen: Ich bin bei dir, wenn du stirbst. Ist das zu viel verlangt, so zu bitten? Würde es uns überfordern, das zu versprechen? Wie selbstverständlich ist es uns, dies zu erbitten? Und wem gegenüber sind wir so im Wort, wer hat von uns dieses Versprechen: Ich lass dich nicht allein, wenn du stirbst?

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie wird es Angehörigen nicht mehr möglich, dieses Versprechen einzulösen. Menschen sterben ohne ihre Lieben an der Seite; auch die Hinterbliebenen sind verlassen. Mit Blick auf New York und an andere Orte, wo die Pandemie schreckensvoll hunderten Menschen in kurzer Zeit den Tod bringt, sehen wir die Leichname in Kühlwagen gelagert. Bilder wie die Kreuzabnahme Jesu…

Wer am Karfreitag – unter gewöhnlichen Umständen – zur Kirche kommt (oder heute zu Hause diesen Tag nachdenklich begeht), der stellt sich unter das Kreuz Christi. Der betrachtet den Tod. Es ist, als wären wir zu einer Beerdigung versammelt. Unter dem Kreuz ist der Ort für alle Klage, alles Entsetzen, für allen Schmerz, alle Trauer um den Tod eines Unschuldigen, eines jungen Lebens; auch um das Leben eines Schuldigen (wie wir alle schuldig geworden sind im Laufe unseres Lebens); auch um das Leben eines alt geworden Menschen.

Mit jedem Tod werden wir daran erinnert, dass auch wir sterben müssen. An jedem Karfreitag stelle ich mir mein Sterben vor und wer dann bei mir sein wird, wenn ich sterbe. Ich kenne den Tag nicht und nicht die Umstände. Ich denke: Wenn Gott Schuld vergibt, wenn Gott so liebt, wie ich ihn durch Jesus Christus kenne, dann bleibt er nicht auf halbem Wege stehen. Gott krönt seine Vergebung und seine Liebe mit der Auferstehung der Toten – mit Gnade und Barmherzigkeit. Und wir dürfen dabei sein und erleben, dass er uns hält und einfach da ist. So ist auch ein von Menschen unbegleitetes Sterben ein Sterben mit Gott. Auch Jesus spricht, in der Ambivalenz der Erfahrungen, einerseits sein Gefühl der Gottverlassenheit am Kreuz aus; andererseits sein Gehalten-Sein: „In deine Hände, Gott, befehle ich mein Leben.“

Vor dem sterbenden Menschen empfinde ich eine tiefe Ehrfurcht. Er geht seinen Weg und stirbt seinen Tod. Das eigene Sterben ist neben seiner Geburt die höchste Aufgabe im Leben eines Menschen. Mein Gedanke an die Auferstehung macht es mir leichter, liebevoll und offen über das Sterben zu sprechen und einen Menschen auf seinem Sterbeweg zu begleiten. Die Hoffnung auf die Auferstehung gibt Trost. Sie nimmt aber nicht vollkommen den Schrecken und sie nimmt – zum Glück – nicht die Trauer. Gesund trauern ist wichtig.

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist alles zu Ende: In jenem Moment des Todes ist alles darauf angelegt, die Beziehung fortzuführen. Um die Beziehung in veränderter und angepasster Form neu zu gestalten, wird die Beziehung auf dem Trauerweg zuerst noch einmal durchgegangen und rekapituliert. Sie wird dabei auch bewertet.

Jeder, der trauert, entdeckt in diesem Prozess glückliche und schmerzhafte Erinnerungen, ungelöste Spannungen und offene Themen ebenso wie gelungene Gespräche; aber auch nicht mehr veränderbare und nicht wieder gut machende Missverständnisse. Der trauernde Mensch entdeckt Verletzungen und Versäumnisse. Es wird in Zukunft wichtig sein, die Gefühle wahrzunehmen und auszuleben, um die vergangene Beziehung ruhig und gelassen als eben so und nicht anders gelebt zu akzeptieren. Auf diese Weise ermöglicht Trauer, uns selbst wieder zu finden und neues Leben zu gestalten.

Für den, der geht, und für den, der zurückbleiben muss, ist es am schwersten: hilflos zusehen zu müssen, wie das eigene Kind, der Freund, die Schwester der Seele, leiden und sterben muss. Wissen, dass die, die der Sterbende zurücklässt, versinken werden in einem Meer von Traurigkeit…

Maria unter dem Kreuz: Eine Mutter sieht ihren Sohn sterben, schrecklich sterben. Sie hat ihn geboren, zur Welt gebracht und sie hat ihn erzogen. Und dann ist er fortgegangen, wie Kinder fortziehen. Sie hat ihn ziehen lassen, nicht ohne Widerstand. Sie hat ihn mehr oder weniger verloren, ihren Sohn: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!“ So sprach der Sohn zu seiner Mutter. Da verschwand sie aus seinem Leben. Nun aber steht sie unter dem Kreuz. Wir wagen kaum, uns ihren Schmerz vorzustellen, ihre Verlassenheit, ihr Gefühl: Alles vergeblich. Sinnlos ist dieses Sterben und auch ihr eigenes Leben scheint ihr sinnentleert im Blick auf dieses Sterben. Viele Bilder malen Maria jung und schön, noch im Schmerz. Ich kann mir Maria auch alt vorstellen, verbittert im Schmerz, erloschen, lebendig tot.

Trauer über das Sinnloseste, das sein kann, dass Eltern wegen Krieg oder wegen einer grauenvollen Tötung ihr Kind entrissen wird für immer. Eindrücklicher kann man nicht gegen sinnlose Gewalt demonstrieren: Maria unter dem Kreuz ihres sterbenden Sohnes steht für alle, deren Kinder umkamen. Das tote und das lebende Opfer zusammen.

Und auch der Freund, der geliebte Jünger unter dem Kreuz: in ebenso unbeschreiblichem Schmerz wie die Mutter: jung, empfindsam, weinend, haltlos, verzweifelt, wütend, ohnmächtig… Wie alle, die um ihre Toten trauern. Wie wir.

Noch der sterbende Jesus am Kreuz hilft denen, die zurückbleiben, zu leben.

So ist Jesus selbst im Sterben noch für seine Mitmenschen das und sorgt für sie. Sterben wurde früher sinnbildlich als „das Zeitliche segnen“ bezeichnet. Der Sterbende „segnet das Zeitliche“. Jesus segnet das Zeitliche indem er den beiden Menschen, die ihn im Sterben begleiten, Zukunft eröffnet. In der Trauer suchen wir Trost und Jesus vermittelt Trost und Hoffnung über den Tod hinaus: durch ein Leben bei Gott und durch den neuen Blick auf das irdische Leben. „Frau, siehe, dein Sohn. Und: „Siehe, deine Mutter.“ Der Eine ist an den Anderen gewiesen. Gegenseitig. Beide sind – gerade unter dem Kreuz – nicht allein gelassen, sondern miteinander in die Zukunft geschickt. Zwei Menschen füreinander unter dem Kreuz zusammen gebracht. – Was bedeutet das für uns?

Wenn einer am Ende ist und keine Kraft mehr zum Leben hat, dann steht einer neben ihm  – zu Corona-Zeiten auf Abstand – und hält zu ihm. Zwei Menschen unter dem Kreuz – nicht allein gelassen, nicht vergessen, auch im Kummer nicht. Füreinander verantwortlich. Fähig zur Liebe und Verbundenheit. Fähig Liebe zu geben und Liebe zu nehmen, Zärtlichkeit und Glück … trotz allem.

Fürsorge, Frieden und Hoffnung als Inhalt und Sinn des Lebens.

Der Gekreuzigte ist im Johannes-Evangelium in Wahrheit der Erhöhte, der König der Welt. Der Sohn kurz vor der Rückkehr zum Vater. Er wird hier so gezeigt, dass er von Anfang an uneingeschränkt für den Willen Gottes da ist. Er stellt sein Leben Gott zur Verfügung, so dass Gott durch ihn sichtbar wird.

„Es ist vollbracht.“ In diesen Worten ist alles zusammengefasst, was Jesus vorher gesagt und getan hat: die unbegreifliche Zuversicht, mit der er an der Fürsorge und der Verantwortung für die Menschen festgehalten hat, als die einzig mögliche Macht, diese Welt zu verwandeln. Gott ist die unbegreifliche Güte, die er den Menschen entgegen bringt, die vom Leiden, Schuld und Tod bedrängt sind. Die unbegreifliche Zuversicht, mit der Jesus an dem Glauben festhielt, dass er zurückkehren wird zum Vater. Und mit ihm auch wir.

„Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.“ Amen.

Joh. Seb. Bach „O Haupt voll Blut und Wunden“
Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

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Passionsandacht am Dienstag, dem 7. April von Pfarrerin Dr. Gita Leber in St. Ignatius, Frankfurt an Main

Predigt zum Sonntag Palmarum, 5. April 2020 von Pfarrer Dr. Lewerenz

Joh. Seb. Bach, Fantasia con imitatione h-moll BWV 563
Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

Palmsonntag 2020: allein und ohne Berührung?

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz, Amen.

Palmsonntag: Jesus zieht auf einem Esel reitend in Jerusalem ein, seine Jünger und Anhänger*innen begleiten ihn. Am Straßenrand stehen die Menschen, legen ihre Kleider und Palmzweige auf die Straße, rufen Hosianna.

Palmsonntag 2020: Jesus reitet allein auf einem Esel in Jerusalem ein, niemand begleitet ihn, keiner steht am Straßenrand. Polizisten kontrollieren, ob Jesus eine Dienstbescheinigung hat, die ihn als systemrelevanten Bediensteten ausweist. Aber ist der Sohn Gottes heute überhaupt systemrelevant, brauchen die Leute, brauchen wir ihn?

Passion 2020 – ein Jahr, das in Vielem völlig anders ist als die anderen Jahre, ein Jahr, das mir bewusst macht, wie fragil unser Leben und unsere Gesellschaft sind, so sicher wir uns hier in den vergangenen Jahren in Europa auch geglaubt haben. Eine Zeit, die mich innehalten lässt und schauen, was ich vermisse. Und eine Zeit, die mich nach Gott fragen lässt, neu und anders.

Kontaktsperre – wem darf ich noch nahe kommen? Jetzt habe ich das Glück, in einer Partnerschaft zu sein, ich bin also im Alltag nicht allein. Aber die alten Eltern, die dürfen wir nicht besuchen, uns mit Freund*innen nicht treffen. Und ich merke, wie sehr mir persönliche Begegnungen und auch Berührungen fehlen. Wo wir als Deutsche doch erst in den letzten vielleicht 20/30 Jahren gelernt haben, dass man sich zur Begrüßung auch umarmen darf, sich einen Kuss geben kann. Jetzt nicht mehr.

Jesus war an Palmsonntag umgeben von seinen Freund*innen, gemeinsam zogen sie über die engen Gassen von Jerusalem. Dicht gedrängt saßen sie am Abend zusammen – bis zur Verhaftung von Jesus.  Jesus war mit seiner Angst allein im Garten Gethsemane, seine Jünger schliefen. Er stand allein vor den Hohepriestern, vor Pontius Pilatus, musste allein sein Kreuz tragen – bis er zusammenbrach. Jesus, ein Mensch, der Geselligkeit lebte, Jesus, einer, der gewohnt war, mit seinen Anhänger*innen engen Kontakt zu haben. Angesichts des Todes allein, von allen verlassen – am Kreuz auch von Gott.

Einen der letzten Momente körperlicher Innigkeit erlebte er am Tag vor seiner Verhaftung. Eine ungenannte Frau kam und salbte Jesus. Dieser Moment des Innehaltens, dieser Moment tröstlicher Zuwendung ist der für den Palmsonntag 2020 ausgewählte Predigttext aus dem Markusevangelium im 14. Kapitel:

1 Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäuerten Brote. Und die Hohepriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten. 2 Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.

3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

In den meisten Kommentaren zu diesem Text geht es um den Gegensatz von Ökonomie und Zuwendung, um die Angemessenheit, Jesus mit diesem so kostbaren Öl zu salben. In anderen Jahren hätte ich sicher auch darauf meinen Blick gelenkt, aber angesichts der Corona-Pandemie und der Schutzmaßnahmen bei uns stellen sich mir andere Bilder ein.

Da ist Jesus. Er weiß, dass er sterben wird. Spätestens die Vertreibung der Wechsler und Händler aus dem Tempel hat sein Schicksal besiegelt. Er stört den Handel, beeinträchtigt den Gewinn, er muss weg. Weg, bevor das Passafest die Pilger anzieht. Wenn der ökonomische Gewinn in Gefahr ist, muss alles andere hintanbleiben. Ein infizierter Barkeeper? Die Skisaison muss noch weiter brummen, koste es, was es wolle. Ein Virus verbreitet sich? Die oberitalienische Industrie muss weiter produzieren, alles andere, das wird erst einmal hintangestellt – bis es sich nicht mehr verdecken lässt. Die Opfer sind auch diesmal wieder zweitrangig – wie es bei der Produktion von Kleidung in Asien oder der Gewinnung von Rohstoffen in Afrika und Südamerika seit langem üblich ist.

Doch da ist diese Frau, sie stört einfach die Männerrunde, einfach so. Kommt in das Haus und zerbricht das Glas mit dem kostbaren Nardenöl und gießt es auf das Haupt von Jesus. Ein Skandal. Und natürlich regen sich zuerst die mit dem Dollarblick auf. Was hätte man mit dem Geld nicht alles viel Sinnvolleres machen können. All die, die bisher das Sagen hatten, die regen sich auf.

Jesus gebietet Einhalt. „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Mit einem Mal kehren sich die Wertmaßstäbe um. Sie, die Betreuerin aus Rumänien, aus der Ukraine, sie hat ein gutes Werk getan, billig bezahlt, doch plötzlich im Licht der Aufmerksamkeit. Sie, die Verkäuferin, der Pfleger, die Krankenschwester, die Kassiererin.

Die ungenannte Frau, sie gibt und sie gibt über die Maßen für Jesus. Sie salbt ihn zum König. Doch für ihn selbst ist es die letzte Ölung, sie salbt ihn für das Begräbnis. Er muss seinen Weg gehen, aber er geht ihn benetzt von Zuwendung und kostbarem Öl.

Eine Frau, die Jesus die letzte Ehre erweist. Wenn ich die Berichte aus Spanien und Italien lese, graust mir: kein Besuch im Krankenhaus, keine Hand, die Sterbende hält, keine Krankensalbung, noch nicht einmal eine würdige, eine angemessene Beerdigung. Soldaten finden Sterbende und Tote in Seniorenheimen, vor der Kapelle segnet ein Priester vorbeifahrende Leichenwagen, kein Abschied, keine Berührung. Wo ist die Frau, die sich über die Regeln hinwegsetzt und Menschen salbt, Menschen segnet? Ihnen die letzte Berührung, die letzte Würde gibt?

Das Wissen, dass direkte Zuwendung, direkter Kontakt Trost und Hoffnung in schwierigen Situationen stiftet, oft ein Wissen von Frauen. Die ungenannte Frau und der Jünger, den Jesus liebhatte, zwei namentlich ungenannte, sie erweisen Jesus im Angesicht seiner Passion die körperliche Zuneigung, die er braucht, um seinen Weg bis ans Kreuz gehen zu können.

Können, ja müssen wir Kranken und Sterbenden solch eine Zuwendung vorenthalten in den Gefängnissen, Krankenhäusern und Notlazaretten dieser Welt?

So, wie ich kaum aushalten kann, wenn ich mir Jesus vorstelle, wie er gefoltert und gemartert sein Kreuz schleppen muss, so wenig kann ich es aushalten, dass die alten Eltern, die Nachbarn, der flüchtige Bekannte womöglich ohne Trost und Zuneigung sterben müssen. Es geht nicht um direkte Schuld, hier und heute, es geht um Schmerz.

Es geht um Leiden – wofür? Im Fehlen der Zuneigung angesichts des Leidens ist die Gottferne, die Jesus am Kreuz spürte, schon vorausgenommen. Ist da die Hand Gottes, die uns auffängt? Ich hoffe darauf. Ich hoffe auf die unerwartete Zuneigung, die auch heute, auch in dieser surrealen und doch realen Welt von Krankheit und Bedrohung geschieht – trotz der eigenen Angst.

Und ich hoffe auf Gott, der sich nicht verborgen hält, sondern sich erbarmt und dem wir sagen können: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. (Lukas 23, 46). Gott ist systemrelevant auch heute, gerade heute. Weil ich hoffe und gewiss bin, dass Gottes Hand mich auffängt und mir und allen Menschen die Zuneigung wieder gibt, die ich vielleicht hier auf Erden nicht bekommen konnte, als ich sie so bitter gebraucht hätte.

Bleiben Sie behütet, Ihr Olaf Lewerenz

Predigt zum Sonntag Judika, 29. März 2020 von Pfarrer Dr. Heinemann

Joh. Seb. Bach „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ BWV 622
Martin Lücker, Konzerthaus Berlin

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen

Da ist die Unruhe, die Unsicherheit. Wie gefährlich ist das Virus? Wie ansteckend? Gehöre ich zu einer der Risikogruppen? Bin ich vielleicht sogar schon infiziert, merke es nicht – und bringe damit andere in Gefahr?

Und was ist überhaupt mit der Familie, den Freunden? Werde ich meine Eltern wiedersehen – oder eben meine Kinder, die Enkel? Wie erkläre ich den Kleinen, dass sie Oma und Opa plötzlich nicht mehr sehen dürfen?

Plus die Existenzsorgen. Bleibt mein Arbeitsplatz? Überlebt meine Firma? Wo bekomme ich das Geld fürs Nötigste her, für Essen, die Miete?

Und über allem die Frage: Wie lange wird das eigentlich dauern? Zwei Wochen, vier Wochen? Bis Ostern, bis zum Sommer? Oder sogar länger?

Es ist diese Unruhe, diese Unsicherheit, die lähmt. Die etwas Schweres über alles legt. Als wäre die Stadt, still wie sie jetzt ist, schwermütig.

Und manchmal auch: beinahe schon hysterisch. Sinnvolle Regeln sind das eine: Abstand halten, Händewaschen, keine Gruppen. Aber reicht das? Besser gar nicht mehr vor die Tür gehen? Alle Kontakte vermeiden? Bis wohin ist es gesunde Vorsicht – und ab wann Übervorsicht, Angst, Hysterie?

Der Predigttext für den fünften Sonntag der Passionszeit, Judika, steht im Hebräerbrief, und dort in Kapitel 13, die Verse 12 bis 14:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.

Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Es ist ein einfaches Bild, das mich als erstes anspricht: „So lasst uns nun hinausgehen.“ In anderen, in normalen Zeiten das Selbstverständlichste der Welt. Jetzt: Beinahe schon Utopie. Ein Wunschbild: Ach dass wir doch alle einfach wieder hinausgehen könnten! Auf die Straße, in die Sonne. Einander begegnen. Das austauschen, was uns bewegt. Oder auch nur den Klatsch des Tages, das, worüber man halt so spricht. „So lasst uns nun hinausgehen“, das ist eine Erinnerung. Und ein Versprechen: Das wird wieder sein!

Dabei hat das Hinausgehen nicht nur diesen einfachen (verlockenden!) wörtlichen Sinn. Der kurze Predigttext aus dem Hebräerbrief ist insgesamt dadurch geprägt: Durch Innen und Außen. Da ist das sichere Lager. Und da ist das, was dort draußen ist, vor dem Tor, außerhalb der Mauern. Lockt es? Oder lässt es auch zögern, weil es unbekannt ist?

Jedenfalls: Aufbrechen! Das macht der Text ganz stark. Das ist sein Grundthema, da lässt er nichts gelten: Eben nicht drin bleiben, im Lager. Sondern raus, ins Unbekannte.

Und dann sind da noch zwei Dinge im Text. Das erste irritiert mich – ja eigentlich mehr noch, es provoziert. Und das zweite weckt eine Sehnsucht. Wie eine Erinnerung, dass da noch etwas ist … etwas, was ich im Alltag immer wieder vergesse, was in den Hintergrund rückt.

Das erste ist das Leiden und die Schmach. Deswegen sollen wir ja raus aus dem sicheren Lager, raus und aufbrechen. Um Jesu Willen. Oder genauer eben: Um seines Leidens Willen. Um „seine Schmach zu tragen“. Was soll das sein? Es irritiert. Eigentlich möchte ich das überlesen. Leiden und Schmach, das muss nicht sein. Oder?

Und das zweite: das Bild von der zukünftigen Stadt, die wir suchen. Ein Ort der Ruhe und der Schönheit. Ohne Tränen und ohne Schmerz. Himmlisches Jerusalem, Paradies, Himmel … unser Glaube erzählt von einem guten Ort, dort, dann, dereinst.

Wie oft vergesse ich das im Alltag, wo diese Welt hier alles zu sein scheint. Wo uns der Alltag immer wieder fordert und voll einnimmt. Die Erinnerung daran, dass da noch etwas kommt – und dass dieses etwas, dieses zweite Leben gut sein wird –, die Erinnerung ist heilsam. Ich gewinne Abstand von dieser Welt hier. Sehe sie noch einmal mit anderen Augen …

Doch zunächst zurück zum ersten, zur Irritation. Zurück zu Leiden und Schmach.

Aufbrechen – das Thema unseres kurzen Textes – hat immer auch damit zu tun, etwas zurückzulassen. Vertrautes. Und Sicherheiten. Manchmal wird erst im Aufbruch deutlich, dass diese Sicherheiten auch trügerisch waren. Dass es sich auch um Scheinsicherheiten gehandelt hat.

Die momentane Situation macht mich so ratlos wie wohl jeden von uns. Ich verstehe kaum, was passiert. Bin immer wieder beunruhigt, beinahe schockiert von der Geschwindigkeit, mit der das alte vertraute Leben zerfällt. Leere Regale im Supermarkt, verschlossene Geschäfte auf der Zeil, Ausgangsbeschränkungen – und immer die Frage: Was kommt noch?

Klar ist, dass das Leben nicht mehr so ist, wie es war – und dass es vielleicht, wahrscheinlich auch nie wieder so wird. Also: Aufbrechen. Aus dem Lager unseres alten Lebens, das nur ein scheinsicheres war.

Und dabei: den Blick auf Leiden und Schmach richten.

Vielleicht macht diese Krise, machen diese Tage eines: Sie rücken etwas in den Blick, was ich sonst oft verdränge. Woran ich nicht denken möchte, im normalen Alltag: an Krankheit und Tod.

Plötzlich sehen wir die Bilder aus italienischen, aus spanischen Krankenhäusern. Sehen die schrecklichen Kolonnen bei Nacht. Das macht Angst. Und es erinnert mich daran, dass jeder von uns krank werden wird (nicht vom Corona-Virus, davon wahrscheinlich – zumindest schwer – nur die aller-allerwenigsten von uns). Und dass jeder von uns sterben muss.

Normalerweise verdrängen wir das. In unserer Gesellschaft steht es am Rand. Jetzt gibt es keine Möglichkeit, daran vorbeizusehen. Es sind Grunddaten unseres menschlichen Lebens. Es gibt keine noch so (schein)sichere Festung, die davor schützen würde, krank zu werden – und zu sterben, am Ende dieses irdischen Lebens.

Und – jetzt wird die Irritation zur Provokation – und der Predigttext sagt noch mehr. Er sagt: Dort wo Leiden und Schmach sind – da ist der Christus, ist Gott selbst. Also dort, wo der spanische Arzt stirbt, der so vielen Menschen geholfen hat. Dort, wo die italienische Hebamme stirbt, die so viele kleine Leben gesund zur Welt gebracht hat. Dort, wo so viele Menschen weltweit leiden und sterben – gerade dort ist Gott. Dort ist er nicht weg, sondern nahe. Hält die Hände, die sonst niemand mehr hält. Spricht die Worte, die niemand mehr sprechen kann. Begleitet auf diesem letzten Weg.

Es ist schwer zu verstehen. Ich kann es kaum begreifen. Aber da, wo unsere Kreuze sind – da ist Gott selbst. Die Welt ist im Moment nicht gottverlassen. Sondern Gott ist da, in Wuhan und in Madrid, in New York und in Bergamo, in Nembro. Gott ist auch hier bei uns, sollte es so schlimm werden wie in Italien und Spanien. Er ist da, mitten in dieser ganzen schrecklichen Situation. Mitten in diesen schrecklichen Bildern.

Das provoziert meinen Widerspruch. Fast klingt es zynisch, angesichts des Leids. Sollte dort, wo Gott ist, nicht alles gut sein? Und doch tröstet es auch. Denn was würde das Gegenteil bedeuten? Gott ist nicht da, all‘ diese Menschen leiden und sterben welt- und gottverlassen? Nein, der Gott des Kreuzes flieht nicht vor Schmerz und Leid. Im Leid hält er es mit uns zerbrechlichen Menschen aus, weicht er uns nicht von der Seite.

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das ist das Versprechen. Die Erinnerung daran, dass da noch etwas kommt. Etwas, das nicht von dieser Welt ist. Ein Ort, ohne Tränen und Leid, ohne Panik und Angst, ohne den Tod. Wenn wir aufbrechen aus den Scheinsicherheiten. Dem ins Gesicht sehen, dass es zu diesem Leben gehört, dass wir krank werden, dass wir sterben – dann öffnet sich dieses Hoffnungsbild vielleicht noch einmal neu.

Und ich ahne, dass – so schön dieses Leben ist. So sehr ich es liebe. So sehr ich es genieße, die Freundschaften (die gerade oft so schmerzhaft fern sind), die Zeit mit den Menschen, die ich liebe, Arbeit und Beruf, die vielen Kleinigkeiten des Alltags, das erste Eis in der Sonne … so sehr mich auch das Schwere bewegt, ich die Widersprüche des Lebens spüre, das Spannungsreiche, das Lebendige darin – so sehr das alles also so ist. — So sehr ahne ich, dass hier nicht meine bleibende Stadt ist. Dass hier nicht der Ort ist, an dem ich festhalten sollte, auf Teufel komm raus – oder das auch nur könnte: hier etwas festhalten.

Gottes Reich ist in dieser Welt. Aber es ist nicht von dieser Welt. Und es wird anders sein. Dann. Dort.

Dieses Versprechen macht schon hier etwas mit mir. Es wirft einen Schein in diese Welt. Christi Kreuz zeigt den Weg in die Zukunft. Weist die Richtung des Aufbruchs. Schaue ich darauf, entwickelt es Kraft. Ich kann Leid und Tod aushalten, so sehr es schmerzt und erschreckt. Ich weiß, sie haben nicht das letzte Wort. Diese Kraft, diese Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt – sie machen Mut im Hier und Jetzt.

Ich gewinne etwas Abstand von dieser Welt und der Situation. Werde ruhiger, gelassener. Kann die Gefahr ernstnehmen – aber die Gefahr ist nicht mehr alles. Die Angst, die Hysterie – sie weichen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.                 Amen

Predigt zum Sonntag Lätare, 22. März 2020 von
Pfarrer Dr. Lewerenz

Von Gott getröstet und mit Milch gesäugt werden

Max Reger „Jesu meine Freude“ Choralvorspiel op. 27 (21)
Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz, Amen.

Der 22. März ist der Sonntag Lätare, freue dich. Wir stehen auf halber Strecke zwischen Aschermittwoch und Ostern, auch, wenn ich angesichts der sich ständig verschärfenden Lage der Pandemie eher das Gefühl habe, wir rasen auf einen Abgrund zu. Und genau deswegen ist jetzt Zeit für Wegzehrung: Milch und Honig! Mitten in unserer Passion ist Zeit für einen Vorgeschmack auf Ostern. Der vorgegebene Predigttext steht im Buch des Propheten Jesaja im 66. Kapitel, hier eine Übersetzung aus der Bibel in gerechter Sprache:

10 Freut euch mit Jerusalem und jauchzt alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr um sie trauert! 11 Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes, weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes. 12 Denn so spricht Gott: Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom und wie einen überschäumenden Bach den Reichtum der fremden Völker. Ihre Säuglinge sollen auf der Hüfte getragen und auf den Knien geschaukelt werden. 13 Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten, und an Jerusalem sollt ihr getröstet sein. 14 Ihr werdet es sehen und euer Herz wird sich freuen, und eure Knochen sollen sprossen wie junges Gras. Die Hand Gottes ist wahrnehmbar an denen, die im Dienst Gottes stehen, aber Fluch denen, die Gott feindlich sind.

Wer bislang behauptete, von Gott wird in der Bibel nur in männlichen Bildern erzählt, der wird spätestens durch unseren heutigen Predigttext eines anderen belehrt. Schlürfen an den Brüsten des Trostes, das dürfen wir, an die Mutterbrust genommen werden sollen wir. Wie einen eine Mutter tröstet, so will Gott uns trösten. Mehr Weiblichkeit kann man wohl sich kaum von Gott denken!

An der Brust säugen, das Urbild für Mütter, für Muttergottheiten. Gaia, die griechische Göttin der Erde säugt ihre Kinder, jetzt am Frühlingsbeginn gibt sie der ganzen Natur Saft und Kraft. Romolus und Remus, die Gründer Roms wurden von einer Wölfin gesäugt. Und die Darstellungen der „Maria Lactans“ zeigen Maria, wie sie Jesus säugt. Sie steht damit sinnbildlich für alle Mütter, die ihre Kinder säugen. Und wie schlimm, wenn Brüste versiegen, Mütter ihren Kindern keine Milch mehr geben können. Ich habe da die traurig-schockierenden Bilder von Sebastiao Salgado vor Augen, der Mütter mit Babies auf dem Arm in der Sahelzone Mitte der 80er Jahre fotografierte. Mütter, deren Busen vertrocknet war, Babies, deren Haut faltig wie die von alten Menschen war. Und wenn ich dann heute Bilder von Flüchtlingslagern an der Grenze von Europa oder in Syrien sehe, da ist nicht die überschießende Milch der Mütter, da versiegen die Quellen der lebensspendenden Nahrung für die Kinder. Milch und Honig, nur noch ein ferner Wunsch in der Hoffnung auf Sicherheit und ein menschenwürdiges Auskommen.

Jesaja verheißt den aus der babylonischen Gefangenschaft zurückkehrenden Israeliten Milch und Honig, Zeichen des Paradieses. Und er verheißt es auf dem Zion, dem Berg Jerusalems. 10 Freut euch mit Jerusalem und jauchzt alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr um sie trauert! 11 Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes, weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes… 13 Wie eine Mutter tröstet,
so will ich euch trösten, und an Jerusalem sollt ihr getröstet sein.

Wenn ein Prophet solche großen Trost- und Hoffnungsbilder malt, dann sieht die Realität ganz anders aus. Nichts vom Glanz, nichts von üppiger Fülle fanden die Heimkehrer in Jerusalem. Dürr und karg, zerstört, verwüstet, so lag Jerusalem im Staub der Verlassenheit. Vielleicht lässt sich die Realität damals mit der Realität vergleichen, die die Flüchtlinge am Ende des zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren vorfanden, in Dresden, in Pforzheim, in Frankfurt. Nächste Woche ist das Kriegsende in Frankfurt 75 Jahre her.

Aleppo, Teheran, Kabul: einst blühende Städte, jetzt verwüstet und verheert. Gott, wo ist dort deine nährende Fürsorge, wer nimmt da die Menschen an die Brust und säugt sie? So viele Menschen sehnen sich nach deiner fürsorglichen Hand. Jetzt angesichts der Angst vor Corona und deren Folgen für uns und unserer Gesellschaft würden wir so gern von dir getröstet werden wie von einer Mutter.

Die Deportierten aus Babylon, sie hofften auf die Rückkehr nach Zion. Aber statt blühender Gärten fanden sie nur Zerstörung und Staub. Sie wollten den Tempel Gottes wieder aufbauen, um Gott wieder eine Wohnstätte auf Erden zu bieten. Nachdem der Tempel von den Römern ein zweites Mal zerstört worden war, blieb nur die Klagemauer unterhalb des Tempelbergs – heute Ort der Konfrontation zwischen Juden und Muslimen.

Jerusalem, eine Stadt der Träume, ein Zionsbrünnlein, in dem Milch und Honig fließen, so sollte sie sein. Aber Stacheldraht und Kontrollen, MGs und Angst vor Attentaten, Streit um jeden einzelnen Quadratzentimeters  und Vertreibung aus geerbtem Land, das ist die Realität in Jerusalem.

Und dennoch: 14 Ihr werdet es sehen und euer Herz wird sich freuen, und eure Knochen sollen sprossen wie junges Gras. So verheißt es Jesaja.

Ja, könnte doch Jerusalem zu einer Stadt des Friedens werden, zu einer geistigen Heimat von Judentum, Christentum und Islam, zu einer Heimat für alle Menschen, die sich nach Gott sehnen. Könnte sie doch Wasser und Brot, Milch und Honig für alle anbieten, die durstig nach Zuwendung und Trost sind.

Vielleicht werden die Menschen in Jerusalem Wege finden, wie Frieden möglich wird. Vielleicht wird dies auch erst am Ende der Tage erfolgen, wenn das himmlische Jerusalem kommt, eine Stadt ohne Weinen und Klagen.

Wir hatten Glück. Unsere Stadt, unser Land wurden nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Wirtschaftswunder und blühende Landschaften, Wohlstand für viele, zumindest materiell. Unsere Knochen und die Häuserskelette der Ruinen sprossen wie junges Gras. Wir haben hier von Milch und vom Honig genascht und tun es immer noch.

Doch jetzt, mitten in der Passionszeit, mitten in der Pandemie, von der wir noch nicht wissen, welche Folgen sie haben wird, warten wir auf Ostern. Wir hoffen auf Leben, auf neues Leben – auf ewiges Leben. Statt dass Tränen unsere Speise sind, hoffen wir auf die Quelle des Lebens, hoffen auf Gott, der uns tröstet in den Durststrecken unseres Lebens und den Durststrecken unserer Welt. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Diese Zuversicht aus Psalm 23, die will Jesaja seinen Zeitgenossen verheißen.

Wir leben in einem satten Land. Durch die momentane Situation wird uns bewusst, wie verletzbar wir als Gesellschaft sind. Unser Leben und unser Kosmos sind endlich und sind verwundbar. Wir suchen Trost, suchen die schützende und nährende Mutterbrust.

Es mag verlockend sein, mich an der säugenden Brust Gottes zu laben, auf seinem Schoß zu sitzen. Milch und Honig zu bekommen, behütet zu sein, das schützt unser Leben, das gibt mir Grundvertrauen. Es gibt bei allen von uns eine Sehnsucht nach dem Trost der Mutter, gerade, wenn ich existenziell zurückgeworfen bin. Ich gestehe, wenn ich krank bin, koche ich mir manchmal Grießbrei – eine Erinnerung an frühe Kindheit.

Doch von Gott, von der Mutter mit Milch gesäugt zu werden, reduziert mich auf das bloße Empfangen. Ich kann aber auch geben, ich will auch geben. Und ich will Verantwortung für mich und meinen Alltag übernehmen – auch und gerade in diesen schwierigen Tagen. Nicht in Überschätzung meiner Möglichkeiten, aber in angemessener Form.

Herausforderungen gemeinsam zu bestehen, neues Leben an Ostern geschenkt zu bekommen, eine Auferstehung zum Leben, ist mehr als ein zurück an die Brust der Mutter. Heute auf der Halbzeit hin auf Ostern mag Milch und Honig mir Kraft geben für den Weg, der vor uns liegt. Aber dann ist es Zeit, feste Nahrung zu mir zu nehmen. Ich kann und will nicht ein Leben lang an den Brüsten Gottes Milch saugen wir ein Kleinkind.

Erwachsen zu werden, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, birgt Gefahren. Ich hoffe, ich greife nicht zu den Fleischtöpfen Ägyptens, die mir eine Auferstehung zum Leben vorgaukeln, mich in Wahrheit aber versklaven. Ich hoffe, ich falle dann auch nicht auf die gebratenen Tauben und den Grießbrei des Schlaraffenlandes hinein, die mir vom Kapitalismus angepriesen wird. Ich hoffe, Gott wird mir, uns und allen Mitmenschen einen Tisch decken, mit dem, was wir jetzt zum Leben brauchen: Brot und Wasser und manchmal auch ein Glas Wein, für den Weg, der vor uns liegt, für die Aufgaben die wir gemeinsam bewältigen müssen, Amen.

Joh. Seb. Bach „Jesu meine Freude“ Choralbearbeitung BWV 610
Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Kattharinen

Evangelisch-lutherische St. Katharinengemeinde