Impuls zum 1. Sonntag nach Epiphanias

Dr. Olaf Lewerenz
Dr. Olaf Lewerenz, Stadtkirchenpfarrer an St. Katharinen
Johann Sebastian Bach -„Das alte Jahr vergangen ist“
Choralvorspiel BWV 614
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen
 

„Das kannste knicken… oder auch nicht!“

„Ein geknicktes Schilfrohr zerbricht er nicht. Einen glimmenden Docht löscht er nicht aus. Er bleibt seinem Auftrag treu und sorgt für Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht durchgesetzt hat.“ (Jesaja 42, 3+4)

Wer kennt heute noch Schilfrohr? Aber „das kannste knicken“, das kennt jede*r. Knicken steht für gebrochen, zerbrochen, wertlos. Jemand, der geknickt ist, fühlt sich wertlos. Ein Kartenspiel, bei dem auch nur eine Karte geknickt ist, ist wertlos. Doch diese Kategorie gibt es für Gott nicht. Alles ist und bleibt wertvoll.

Und ein glimmender Docht? Für mich war das immer ein Bild, dass eine schon verlöschte Flamme sich wieder neu entfachen kann. Daneben aber ist ein glimmender Docht ein rußendes Etwas, das die Luft verpestet. In der griechischen Übersetzung steht qualmend, rauchend. Das erinnert eher an Schlote oder qualmende Trümmer im Krieg oder nach Terroranschlägen. Das Lodern von Krieg, Zerstörung und Leid soll nicht vergessen werden. Unrecht und Leid sollen nicht beiseitegeschoben werden, solange sie noch glimmen.

Nach dem zweiten Weltkrieg wollte bald keiner mehr vom Leid hören, von begangenem Unrecht. So manchmal kommt in Gesprächen auf dem Sterbebett das hoch, was noch rauchte und glomm. Tief drin hatte es sich eingebrannt und das Leben verpestet. Damit Recht werden kann, darf Gebeugtes und Verletztes nicht entsorgt und Erinnerungen und Schmerzen nicht erstickt werden.

Desmond Tutu, Erzbischof von Kapstadt, einer der Mitstreiter von Nelson Mandela, ist kurz nach Weihnachten gestorben. Er war Vorsitzender der Wahrheitskommission in Südafrika. Dort konnten all die Verbrechen der Apartheid noch einmal ausgesprochen und dadurch Verzeihen ermöglicht werden. Dort wurde genau das versucht, was von Gott und seinem Gesandten erhofft wird: die Geknickten, in ihrer Würde Geknickten, werden aufgerichtet und die schwelenden Verletzungen werden sichtbar gemacht, um so Frieden zu bringen.

Nur indem alles Gebeugte, Geknickte wertgeschätzt wird, indem die Glut nicht ersäuft, Verletzungen nicht abgetan werden, kann Recht entstehen. Und zwar bis in die entlegensten Winkel der Erde. Ein langer, ein unbequemer Weg für Gott … und für seine Gesandten. Jesaja spricht dem gedemütigtem, von den Assyrern unterworfenem Volk Israel Recht zu. Doch es geht um Recht bis an die äußersten Enden der Welt. Auch wir können auf den Gesandten Gottes hoffen, von dem Jesaja spricht. Jesus war so ein Gesandter. Er richtete auf, heilte, gab Hoffnung denen, die an den Rand gedrängt waren. Jesus gab Menschen ihre Würde zurück, aber zugleich wartet unsere Welt immer noch auf Recht und Gerechtigkeit.

Den Menschen mit Würde zu begegnen, um sie damit aufzurichten, das ist Gift für ein System der Unterdrückung. Das war zur Zeit von Jesaja so, zur Zeit der Geburt von Jesus, das ist auch heute noch so: in China, in Russland, in Belarus, überall, wo unsere Gesellschaft gespalten wird, um damit die eigene Macht zu sichern. Schon immer ließ es sich mit Unrecht gut leben, gut verdienen.

Aber die Geknickten, die Ausgelöschten –wenn sie denn noch Hoffnung haben-  die ersehnen sich eine andere Gesellschaft. Die warten auf einen Gott, der Recht schafft. So, wie die Zeitgenossen von Jesaja, wie die Menschen zur Zeit Jesu hoffe ich, dass von Gottes heiligem Geist Berührte weiter unter uns leben und wirken, ohne große Worte, aber in der Kraft Gottes, damit Recht wird und keine*r mehr geknickt durchs Leben gehen muss.

Ein hoffnungsvolles neues Jahr,
Ihr Pfr. Dr. Olaf Lewerenz

Johann Sebastian Bach – „In dir ist Freude“
Choralvorspiel BWV 615
Prof.  Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen