Impuls zum Sonntag Reminiszere


Dr. Gita Leber
Pfarrerin an St. Katharinen
Johann Sebastian Bach, 1685–1750
„Kyrie, Gott, Vater in Ewigkeit“
Choralbearbeitung BWV 669
Prof. Martin Lücker an der Orgel von St. Jakobi / Hamburg

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Predigt über Mk 12,41-44

 Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

 Der Predigttext für den Sonntag Reminiszere steht im 12. Kap. des Markusevangeliums. Es ist die Geschichte vom „Scherflein der Witwe“:

41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein.
42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig.
43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben.
44 Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.

Liebe Gemeinde,
nach dem Einzug in Jerusalem hat Jesus drei Tage lang immer wieder im Tempel gelehrt, am Tempelkult Kritik geübt und sich mit seinen Gegnern auseinandergesetzt. So berichtet es das Markusevangelium. Die Geschichte vom Scherflein der Witwe spielt ganz am Ende dieser Zeitspanne. Jesus befindet sich noch einmal im Tempel – es wird das letzte Mal sein.

Wir wissen, dass der Aufenthalt in Jerusalem an einem Kreuz auf Golgata endet. Vor diesem Hintergrund klingt es nochmal anders, wenn Jesus über die Frau sagt, sie habe ihren ganzen Lebensunterhalt, man könnte auch sagen, ihr ganzes Leben gegeben.

Erkennt Jesus etwa in der selbstlosen Tat der Witwe seinen eigenen Weg? Wie sie alles gibt, was sie hat, ihr Leben aufs Spiel setzt, so geht er seinen letzten Weg, lässt los, gibt alle Sicherheiten preis, widersteht dem politisch-religiösen Konsens der Mächte seiner Zeit, ergreift auch nicht die Flucht, die sein Leben noch retten könnte.

Macht die Tat der armen Witwe ihm vielleicht Mut für seinen schweren Weg? Ihre Sorglosigkeit, ihr Vertrauen in den Zukunft schenkenden Gott?

Jesus ist seinen Weg gegangen, und in der Passionszeit bedenken wir seinen Leidensweg und sein Todesgeschick.

Aber als Christin glaube ich, dass das für Jesus von Nazareth nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang war, dass Jesus da, wo er alles loslassen musste, von Gott nicht losgelassen wurde.

Und vor diesem Hintergrund wird die Witwe zu einem Fingerzeig auf den Halt gebenden Gott. Und ihre Geschichte wird zu einer Mutmachgeschichte.

Kann sie das auch für uns werden?

Da, wo wir loslassen müssen? Nicht erst am Ende des Lebens, sondern auch da, wo wir im Kleinen von Anfang an Abschiede erleben und immer wieder erleiden. Denn unser Leben ist ja auf Schritt und Tritt von Abschieden und Neuanfängen bestimmt, von Geburt an. 

 – Wir müssen Lebensphasen loslassen, etwa die Kindheit mit ihren vielen Erinnerungen.

– Wir müssen unsere Kinder jeden Tag etwas mehr loslassen, wenn sie selbständiger werden, irgendwann erwachsen werden und ausziehen wollen.

– Wir müssen vertraute Umgebungen und Menschen loslassen, etwa bei einem Umzug in eine andere Stadt.

– Wir müssen Träume und Ziele loslassen, für die wir gekämpft haben, den gewünschten Studienabschluss, den Traumberuf …

– Wir müssen nach und nach unsre Gesundheit loslassen, was uns vor neue Herausforderungen stellt, ja unter Umständen das ganze Leben auf den Kopf stellen kann.

 Wo habe ich Halt gefunden, als ich etwas loslassen musste, bei meiner Familie, einer guten Freundin, meiner Arbeit …? Jede und jeder hat hier seine eigenen Antworten, und was diese Antworten mit Gott zu tun haben, muss auch jeder für sich selbst sagen. Für mich sind solche „Halt-Gefunden-Erfahrungen“ immer auch Gotteserfahrungen.

 Wer mit dem Handeln Gottes in der Welt und in seinem Leben rechnet, wird die Momente, in denen er loslassen musste und dabei Halt erfahren hat, gewiss so deuten: als Zeichen der Liebe und Güte Gottes.

Und für denjenigen kann auch die Geschichte von der armen Witwe, die alles gegeben hat, zu einem Gleichnis werden für die Macht der Liebe und Güte Gottes, der an uns festhält, wo wir loslassen müssen.

 Der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Johann Sebastian Bach, 1685–1750
„Kyrie, Gott, Heiliger Geist“
Choralbearbeitung BWV 671
Prof. Martin Lücker an der Orgel von St. Jakobi / Hamburg