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Impuls zum 13. Sonntag nach Trinitatis

Dr. Lars Heinemann
Pfarrer an St. Katharinen

Nicolaus Bruhns, 1665–1697
Präludium e-moll („das kleine“)
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen
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„Wo ist dein Bruder?“

Liebe Besucher*innen der Homepage:

Eine Frage, die in den Ohren gellt: „Wo ist dein Bruder?“, „Wo ist deine Schwester?“ Gott stellt sie dem Kain. Und der lügt. „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 9).

Die Wahrheit ist: Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen. Tot liegt der draußen auf dem Feld. Und sein Blut schreit zum Himmel und zu Gott.

Hatte Kain gute Gründe für seine Gewalt? Bestimmt, die hat ja jeder.

Geopfert hatten er und sein jüngerer Bruder Abel. Auf dem Opferaltar vor Gott gebracht, was sie eben hatten – der Ackermann Kain die Früchte des Feldes, der Schäfer Abel von seiner Herde. Vielleicht standen sie da noch Seite an Seite, die beiden?

Doch unvermittelt: „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (Verse 4+5). Das ist gemein, es ist ungerecht.

Hat sich Abel vielleicht innerlich gefreut, dass er bevorzugt wurde? Hat er stumm auf seinen Bruder herabgesehen? Und überhaupt: Warum wehrt Abel sich nicht, draußen auf dem Feld? Wird zum Opfer, ohne Gegenwehr, dieser „Hauch“, diese „Vergänglichkeit“ (das die Übersetzungen seines Namens aus dem Hebräischen).

Aber nein, es nützt alles nichts. An Kains Gewalttat ist niemand außer ihm selbst schuld, kein Gott, kein Abel. Kain allein trägt die Verantwortung. Denn Gott spricht ihn an, direkt nach den Opfergaben: „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?“ (Vers 6) Gott will den Dialog, möchte mit Kain – mit dem Kain in uns – in Beziehung bleiben.

Denn ja: Verletzungen, Zurückweisungen, Ungerechtigkeiten – das kennt jeder und jede von uns. Niemand kommt unbeschädigt davon durchs Leben.

Was tun?

Jedenfalls nicht: sich ins Schneckenhaus der eigenen Verletzungen zurückziehen. Nicht auf dem Karussell der schlechten Gefühle, der Wut, der Scham, sitzen bleiben. Nicht im Zorn mein Gegenüber kaltstellen, die Situation totschlagen.

Sondern: den Kopf heben. Und zurück in die Beziehung, zurück in den Dialog gehen. Mit meinem Bruder, mit meiner Schwester, meiner Partnerin, meinen Kindern, den Eltern, der Nachbarin, dem Arbeitskollegen.

Und mit Gott zurück in die Beziehung, zurück in den Dialog gehen. Nicht nur der Dank, nicht nur das Lob haben hier ihren Ort. Sondern auch die Klage, traurig, verletzt, verbittert – alles das ist vor Gott möglich. Ja sogar: nötig. Die Psalmen singen mehr als ein Lied davon. Unser Gott muss den Schmerz und unsere Anklagen aushalten. Unser Gott hält das aus.

Sodass sich Verletzungen nicht in Gewalt übersetzen. Sodass wir weiter in Beziehungen leben, mit allen Narben. Aber: mit erhobenem Kopf.

„Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester?“ – hier ist er, hier ist sie. Neben mir.

Bleiben Sie behütet. Amen

Ihr Pfarrer Dr. Lars Heinemann

Max Reger, 1873–1916
Toccata d-moll op. 59, Nr. 5
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen