Impuls zum drittletzten Sonntag des Kirchenjahres

Dr. Gita Leber
Pfarrerin an St. Katharinen

Johann Sebastian Bach, 1685–1750
„Werde munter, mein Gemüte“ Choralbearbeitung BWV 1118
Prof. Martin Lücker an der Riegerorgel in St. Katharinen

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Predigttext: 1.Thessalonicher 5, 1-6 (II)

Liebe Gemeinde!

Viele haben es damals gehört; denn sie konnten es nicht überhören: das tausendfache Klirren zerberstender Fensterscheiben. Viele haben es gerochen; denn es ging nicht anders: den beißenden Geruch brennender Synagogen. Viele standen dabei, denn ihnen fehlte der Mut, als der Mob tobte, als SS und SA der Gewalt freien Lauf ließen. In den November-Pogromen von 1938 wurden wehrlose Menschen gedemütigt, gepeinigt und ermordet, Gotteshäuser geschändet und zerstört. Das alles geschah vom 9. auf den 10. November vor 82 Jahren, noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, dem Vernichtungsplan der Wannseekonferenz, den Transporten nach Auschwitz und Birkenau. Aber all das war vorgezeichnet in jener Reichspogromnacht. Keiner konnte damals sagen, man habe nichts gewusst. Dennoch wird dieser Satz bis zum heutigen Tag wiederholt, in ehrlicher Meinung, gegen allen Augenschein.

Ein Schicksalstag ist der 9. November für unser Volk, es ist auch der Tag, an dem 1918 die Republik ausgerufen und 1989 die Mauer geöffnet wurde. 2020 richtet sich unser Blick auf 30 Jahre Wiedervereinigung. Aber im Jahr 2020 – 75 Jahre Kriegsende und Befreiung von Auschwitz muss sich unser Blick auf das Dunkelste richten, was an diesem Tag geschah: Hass und Gewalt, Niedertracht und das Erblinden des Gewissens.

Heute um 15.00 Uhr würden sich Jüdinnen und Juden mit Christinnen und Christen zu einem dialogischen Gedenkgang am Börneplatz treffen. Von dort aus sollte es zu Stolpersteinen in der Nähe des Doms gehen und zur Paulskirche als einem Erinnerungsweg.  Wegen der Corona –Pandemie wurde der Rundgang abgesagt. Aber es gibt dazu einen Film unter: https://www.youtube.com/watch?v=MJdmwN0fY_4&feature=youtu.be

Die November-Pogrome waren zugleich der Auftakt zum Holocaust, zu einer Epoche ungeahnter Zerstörung und Vernichtung, an deren Folgen Europa, die Welt und vor allem die jüdische Gemeinschaft noch heute zu tragen haben.

Das Leiden, die Einsamkeit und die Verzweiflung der Opfer damals bis heute erfüllen uns mit Bestürzung und Trauer.

Auf der Suche nach Wegweisung und Orientierung bergen wir uns im lebendigen Wort Gottes und hören auf den Predigttext für diesen Sonntag. Für den 8. November 2020 ist uns ein Abschnitt aus dem ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki vorgegeben.

Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Der Gemeinde der Handelsmetropole Thessaloniki schreibt Paulus aus Korinth, um sie im Festhalten am Evangelium zu bestärken. Was war geschehen? Die ersten Glieder der christlichen Gemeinde waren gestorben. Aber sie hatten gedacht, sie würden alle noch zu ihren Lebzeiten die Wiederkunft Christi erleben und das Ende der Leiden unter der Pax Romana. Eine tiefe Anfechtung.

Die Pax Romana ist zu einem Synonym für das römische Imperium geworden. Ihr Versprechen von „Friede und Sicherheit“ zielte auf soziale Kontrolle. [[Die Last durch Steuern und Tribute war sehr hoch und wurde durch ein hohes Militäraufkommen gesichert. Die öffentliche Vorführung von Schmerz sollte zur Unterwerfung zwingen und jeglichen Widerstand im Keim ersticken. Rhetorisch wurde diese Art des Friedens als „neues goldenes Zeitalter“ gefeiert.]] Der römische Friede wurde durch ständige Einschüchterung, Missbrauch, Gewalt, militärische Prozessionen und imperialen Kult durchgesetzt. Es wurden in der Provinz Judäa zehntausende Menschen gekreuzigt. Lesen wir den Text in diesem Licht, lautet seine Botschaft: Gehorcht Gott mehr als den Menschen. Prüft als Kinder des Lichts, ob das Recht aller gewahrt wird von den Herrschenden.  Verlasst euch nicht auf ein Versprechen von Sicherheit und auf die, die behaupten, sie hätten die Kontrolle über die Welt.

„Friede und Sicherheit“ – können im Namen von Ideologien missbraucht werden. Paulus fordert von den Thessalonichern ein ständiges Bereitsein. Seid darauf gefasst, jederzeit Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, wie ihr gelebt habt. Denn ihr wisst nicht, wann der Tag des Herrn kommt. „So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.“ Auch Christen gehen dem Gericht entgegen. Aber sie müssen den Zorn Gottes in seiner vernichtenden Kraft nicht fürchten. Denn sie leben mit Christus. Sie sind Kinder des Lichts und des Tages. Sie leben im Vertrauen auf einen gnädigen Gott.

Was bedeutet es heute, als Kinder des Lichts und des Tages zu leben?

Wir erinnern uns mit Scham an unsere Geschichte als Deutsche. Und wir wenden uns zu Gott im Vertrauen auf seine Gnade. Als Kinder des Lichts bekennen wir uns zu unserer Verantwortung heute. Gemeinsam mit dem jüdischen Volk hoffen wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und wollen mit ihm in der Kraft dieser Hoffnung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beten und arbeiten als Kinder des Lichtes Gottes.

Judenfeindlichkeit nimmt in Frankfurt und im ganzen Land zu. Radikale formieren sich. Immer wieder Terrorattentate. Antisemitismus und Rassismus sind auch heute nicht überwunden. Auch in Europa prägen Ausgrenzung und Diskriminierung den Alltag vieler Menschen. Immer wieder werden Denkmale mit Hakenkreuzen beschmiert oder Gräber beschädigt. „Jude“ gilt bei manchen Jugendlichen wieder als Schimpfwort.

Deshalb muss das, was damals geschah, auch der jungen Generation bewusst werden. Unsere Scham darf nicht verstummen. Aber unsere Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 würde ins Leere laufen, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir den in unserer Zeit zu Unrecht Verfolgten und den Opfern von Gewalt schulden. Die Sünde der Gleichgültigkeit darf nicht um sich greifen. Wir sind ihre Nächsten.

Jedem Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Volkszugehörigkeit oder Religion, ist das Bild Gottes eingeprägt. Keiner darf preisgegeben werden. Davon in Wort und Tat Zeugnis abzulegen, sind wir als Christen in besonderer Weise gefordert. Wir sind Kinder des Lichts! Licht ins Dunkel zu tragen ist unsere Aufgabe. Die Erinnerung an die Schreckensnacht und ihre Folgen ist gerade auch heute, da die Zeitzeugen allmählich verstummen, von großer Bedeutung. Mahnt sie uns doch, alles zu tun, um eine Gesellschaft in Freiheit und gegenseitiger Achtung zu gestalten, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen stellt. Amen.

Johann Sebastian Bach, 1685–1750
„Ich hab’ mein Sach’ Gott heimgestellt“ Choralbearbeitung BWV 1113
Prof. Martin Lücker an der Reigerorgel in St. Katharinen

Evangelisch-lutherische St. Katharinengemeinde